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Erich Ribolits

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2011-11-12

Bildung – (k)ein Menschenrecht?

Am 18. Oktober 2011 referierte Erich Ribolits in Villach im Rahmen der Veranstaltung „Welche Bildung für welche Zeiten?“. Mit seiner hier vorliegenden grundsätzlichen Analyse stellt er viele liebgewonnene Weisheiten in Frage. Die anschließende Diskussion verlief entsprechend kontrovers.

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 Der Beitrag erscheint zuerst in
 der Zeitschrift Streifzüge 53,
 Nov. 2011 bzw. im Internet auf
  r www.streifzuege.org.

Als Argument gegen aktuelle Überlegungen und Ansätze zur (Wieder)Einführung von Studiengebühren an österreichischen Universitäten wird verschiedentlich ein geltendes „Recht auf Bildung für alle“ ins Treffen geführt. Die Möglichkeit, studieren zu können – so wird argumentiert –, sei ein fundamentales Menschenrecht, das durch politisch errichtete Hürden nicht unterlaufen werden darf. Auch auf universitärer Ebene soll die freie Zugänglichkeit zu Bildung für jeden gewährleistet sein, der in vorherigen Bildungsbereichen eine entsprechende Eignung nachgewiesen hat. Gefordert wird, dass Bildung nicht auf den Status einer kauf- und verkaufbaren Ware reduziert werden darf und sozial Schwächere durch Studiengebühren nicht von einem Studium abgehalten werden dürfen. Tatsächlich findet sich sowohl in der von Österreich schon vor langer Zeit anerkannten „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen“ aus dem Jahre 1948 als auch in der internationalen „Konvention über die Rechte des Kindes“ ein Passus, der das Recht auf Bildung festschreibt. Aber abgesehen davon, dass bei derartig in nationalen oder internationalen Erklärungen deklarierten Meta-Rechten, schon allein wegen der Allgemeinheit ihrer Formulierung, kaum je die Möglichkeit besteht, sie auch tatsächlich juristisch durchzusetzen, spießt sich bei näherem Hinsehen das Konzept der Menschenrechte gleich in mehrfacher Hinsicht mit der Vorstellung einer der Ermächtigung von Menschen dienenden Bildung.

In der Regel wird der Hinweis auf das Recht auf Bildung ja aus einer Position vorgebracht, in der betont wird, dass Bildung eine bzw. sogar die wesentliche Grundlage dafür ist, Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu befähigen und ihnen zu ermöglichen, in die Gestaltung des sozialen Zusammenlebens im Sinne ihrer Interessen eingreifen zu können. Dementsprechend kritisch wird in diesem Zusammenhang auch immer wieder auf den hierzulande besonders eklatanten Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft von Heranwachsenden und der Höhe der von ihnen erreichten Bildungsabschlüsse hingewiesen und betont, dass die soziale Selektivität des österreichischen Bildungswesens zu gravierenden Benachteiligungen hinsichtlich der „Lebenschancen“ von Menschen aus „sozial schwachen“ Bevölkerungsgruppen führt. Gefordert wird deshalb, dass einzig Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft über den Zugang zu den unterschiedlichen Ebenen des Bildungswesens entscheiden sollen – jeder soll die gleichen Chancen haben zu beweisen, dass er ein besonders hohes Verwertungspotential in sich trägt und bereit ist, dieses als Arbeitskraft zur Geltung zu bringen. Die der Legitimation des Sortierens nach Siegern und Verlierern dienende Leistungskonkurrenz soll weder durch sozial bedingte noch durch anderweitig verursachte unterschiedliche Möglichkeiten der Bildungsteilhabe verzerrt werden. Die Erkenntnis, dass das im Rahmen der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung dem Einzelnen jeweils zugestandene Maß an „persönlichem Spielraum“ wesentlich vom Preis abhängig ist, den er für den Verkauf seiner Arbeitskraft am Arbeitsmarkt zu erzielen imstande ist, führt zur Forderung, dass alle die gleiche Möglichkeit haben sollen, durch das Absolvieren von (höheren) Bildungsgängen eine besondere Brauchbarkeit zu dokumentieren.

Das Argument, Bildung sei ein Menschenrecht und keine Ware, birgt in sich somit einen unauflöslichen Widerspruch: Einerseits dient der Hinweis auf das Menschenrecht dazu, eine grundsätzliche Gleichheit und besondere Würde aller Menschen zu postulieren. Bildung wird als ein allen Menschen im gleichen Maß zukommendes Grundrecht definiert und ausdrücklich gefordert, dass das allumfassende Verwertungspostulat der gegebenen ökonomischen Ordnung nicht darüber entscheiden soll, wem Bildung in welcher Höhe zukommt. Andererseits wird argumentiert, dass die für alle frei zugänglich geforderte (universitäre) Bildung Menschen befähigen soll, sich als „Ware Arbeitskraft“ am Markt verkaufen und vom erzielten Erlös das kaufen zu können, was unter den Bedingungen der Warengesellschaft als „Freiheit“ feilgeboten wird. Als Grundrecht wird Bildung mit der „Würde“ des Menschen begründet und soll den Marktmechanismen entzogen sein, zugleich soll sie aber der je eigenen Positionierung am Markt dienen und somit Ausdruck für den „Wert“ von Menschen sein. Der Appell, dass Bildung ein Menschenrecht sei und nicht auf den Status einer Ware reduziert werden soll, korreliert damit perfekt mit dem dem Bildungsbegriff seit seinem Bestehen innewohnenden Antagonismus, dass Bildung als herrschaftskritische Größe propagiert wird, tatsächlich aber stets nur die bürgerlichen Herrschaftsverhältnisse bestätigt hat. Wie ich schon an anderer Stelle (siehe dazu den Text „Erhebet euch Geliebte, wir brauchen eine Tat!“ in Streifzüge 50/2010) umfangreich dargelegt habe, wurde der Bildungsbegriff zwar stets mit der Orientierung an Selbstbefreiung verbrämt, diente real aber immer der Unterordnung unter die Forderungen der Ökonomie.

Seit ihrer Herausbildung parallel mit dem Heraufdämmern des bürgerlichen Zeitalters ist die Idee der Bildung untrennbar mit der Logik der kapitalistischen Ökonomie verknüpft. Für sie gilt in sinngemäß gleicher Form, was Adorno/Horkheimer bezüglich Kultur konstatiert haben: Sie „ist eine paradoxe Ware. Sie steht so völlig unterm Tauschgesetz, dass sie nicht mehr getauscht wird; sie geht so blind im Gebrauch auf, dass man sie nicht mehr gebrauchen kann.“ (Adorno/Horkheimer 2000: 197) Durch die vom Verwertungsdiktat bestimmte Logik des politisch-ökonomischen Systems wird der Gebrauchswert von Bildung – die Emanzipation des Menschen im Sinne des Transzendierens jener Entfremdung, die die Grundlage seines gesellschaftlichen Funktionierens darstellt – völlig unterlaufen und ad absurdum geführt. Unter diesen Umständen ungebrochen Bildung als Synonym für ein Hervorbringen des Menschlichen am Menschen zu beschwören heißt, die Augen davor zu verschließen, dass es der Warenökonomie immanent ist, alles – jedes tote oder lebendige Ding oder Verhältnis – zur Ware zu machen; somit ist aber auch die Fähigkeit des Menschen, die Welt nach seinem Dafürhalten zu gestalten, vom ökonomischen Gesetz der Rationalität und Effektivität vereinnahmt.

Die Logik der Verwertung

In der kapitalistischen Ökonomie werden Güter nicht produziert und am Markt feilgeboten, um Menschen mit überlebensnotwendigen oder ihr Leben bequemer machenden Dingen zu versorgen; und auch Dienstleistungen werden nicht angeboten, um das Leben von Menschen angenehmer zu machen. Alle diesbezüglichen Aktivitäten stellen keine „sozialen Akte“, sondern „ökonomische Unternehmungen“ dar, deren finaler Zweck die Verwandlung von Geld in mehr Geld ist – einziges Ziel ist das Vermehren investierten Kapitals. Die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen stellt dabei bloß einen unumgänglichen Nebeneffekt dar, der nach Maßgabe der Möglichkeiten ja auch durchaus vermieden wird. Sobald die Chance besteht, (langfristig) eine höhere Rendite zu erzielen, indem Kapital nicht in Aktivitäten der so genannten Realwirtschaft angelegt wird, sondern in Bereichen, in denen Geldvermehrung ohne den Umweg über Produktion und Distribution von Waren oder das Zurverfügungstellen von Dienstleistungen möglich ist, geschieht das selbstverständlich auch. Und der „Logik der Geldvermehrung“ entsprechend, werden Investoren ihr Kapital aus realwirtschaftlichen Aktivitäten auch abziehen, wenn damit kein ausreichender Gewinn realisierbar ist, was vielfach das Ende der betroffenen Produktion und Distribution bedeutet – unabhängig davon, wie dringend die betroffenen Menschen diese Güter auch brauchen mögen!

Sinngemäß genauso wird auch im so genannten Bildungswesen die menschliche Fähigkeit, sich lernend die Welt zu erschließen und in ihre Gestaltung eingreifen zu können, nicht deshalb aktiviert, um Menschen der Gestaltung ihres Leben gegenüber mündiger zu machen, sondern um sie in brauchbares – das heißt: der Geldvermehrung dienliches – Humankapital zu verwandeln. Dazu ist zum einen notwendig, sie in einer Form zu qualifizieren, die sie als Arbeitskraft in die Lage versetzt, so viel Mehrwert zu schaffen, dass – nach Abzug ihres Lohnes und aller sonstigen Ausgaben, die für das Ingangsetzen der jeweiligen wirtschaftlichen Unternehmung notwendig sind – ein gegenüber anderen Möglichkeiten der Geldvermehrung konkurrenzfähiger Gewinn übrig bleibt. Zum anderen ist ihre Brauchbarkeit aber in höchstem Maß auch davon abhängig, wieweit sie gelernt haben, sich mit dem ihnen aufgeherrschten Humankapitalstatus zu identifizieren. Es sind somit zwei Aufgaben, die die im gesellschaftlichen Auftrag tätigen und dementsprechend zum Perpetuieren des politisch-ökonomischen Systems verpflichteten Bildungseinrichtungen erfüllen müssen: ihre Klientel im Sinne der Verwertungserfordernisse qualifizieren und sie dazu bringen, das System, das Geldvermehrung zur zentralen Triebkraft hat, gutzuheißen. Dafür gilt es vor allem die Erkenntnis von Menschen hintanzuhalten, dass ihre Bedürfnisse über das weit hinausgehen, was die Warengesellschaft als Lohn für ihre Domestikation bereithält, und zudem auf einer ganz anderen Ebene liegen.

Unter den skizzierten politisch-ökonomischen Bedingungen ein Recht auf Bildung zu urgieren, ist somit letztendlich gleichbedeutend mit dem Einfordern des allgemeinen Rechts, sich für die Verwertung zurichten lassen zu dürfen. Dem von durchaus menschenfreundlicher Position aus vorgetragenen Appell nach einem „Menschenrecht auf Bildung“ gilt es in diesem Sinn genauso ambivalent gegenüberzutreten wie einem solchen nach einem – in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ja ebenfalls angesprochenen – „Recht auf Arbeit“. Für Menschen, die nicht auf ein veritables Vermögen zurückgreifen können, ist ein mehr oder weniger adäquates Überleben innerhalb der gegebenen Gesellschaftsformation nur durch ein erfolgreiches Zu-Markte-Tragen ihrer Arbeitskraft möglich. Diese Not macht es für die Majorität der Gesellschaftsmitglieder erforderlich, um einen Lohnarbeitsplatz kämpfen zu müssen. In der Regel hindert sie das jedoch keineswegs, von einem arbeitsfreien Leben zu träumen und sich auf das nächste Wochenende, den Urlaub oder die Pensionierung zu freuen. Auch wenn es unserem auf Verwertung getrimmten Bewusstsein gar nicht so leichtfällt, den Übergang zu derartigen (lohn﷓)arbeitsfreien Lebensphasen zu bewältigen, ist den meisten Menschen nämlich sehr wohl bewusst, dass ihr Wunsch, einen Käufer für ihre Arbeitskraft zu finden und in dessen Auftrag zu funktionieren, aus einer Zwangslage geboren ist und kein ursprüngliches Bedürfnis widerspiegelt. Sie wissen, „das Reich der Freiheit beginnt in der Tat erst da, wo das Arbeiten, das durch Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist, aufhört“ (Marx 1988: 828).

Die Forderung nach einem „Recht auf Arbeit“ ist in Hinblick auf den Gerechtigkeitshorizont des aktuellen Gesellschaftssystems somit durchaus nachvollziehbar und im Sinne derer, die diese Forderung propagieren, auch „nützlich“, allerdings muss klar sein, dass sich ein derartiger Anspruch im Horizont des Verwertungssystems bewegt und keinen Deut darüber hinausweist. Die seit Generationen wirksame, an Verwertung und Konkurrenz orientierte Domestizierung unseres Bewusstseins lässt vielen Menschen freilich auch schon eine derartige Forderung nach einem – in der Menschenrechtskonvention in dieser eindeutigen Form übrigens nicht formulierten – verbrieften Anrecht auf einen Lohnarbeitsplatz frivol erscheinen. Der Wunsch nach bedingungsloser Wohlversorgtheit bzw. nach einem Leben, dessen selbstbestimmte Gestaltung so wenig als möglich durch „Notdurft des Daseins“ eingeschränkt wird, ist dem Bewusstsein der meisten Gesellschaftsangehörigen allerdings derart fremd, dass ihnen eine entsprechende Forderung völlig verrückt erscheint. Genauso wenig lässt sich letztendlich auch die Vorstellung von Lernen als Akt der Selbstbefreiung und Grundlage für anwachsenden „Eigensinn“ – also die Möglichkeit, einem inneren Antrieb entsprechend und unabhängig von der Notwendigkeit, aus dem Gelernten irgendwann einmal eine Rendite herausschlagen zu müssen, lernen zu können – mit dem allgemein verbreiteten Weltbild in Einklang bringen. Genauso wie Lohnarbeit erscheint uns Lernen gemeinhin als etwas, dem man sich nur unterzieht, weil und solange es notwendig ist. So wie Arbeitszeit gilt auch Lernzeit als Investition, die getätigt werden muss, um die im gegebenen System für „hingegebenes Leben“ versprochenen Belohnungen zu lukrieren.

Konkurrenz als „natürliche“ Lebensform

Wenn mit einem Menschenrecht auf Bildung argumentiert wird, werden damit (nur) dem bürgerlich-kapitalistischen System entsprechende Bedingungen des (Über﷓)Lebens eingefordert. Urgiert wird die für alle im gleichen Maß gegebene „Freiheit“, sich durch Verdrängen anderer eine günstige Position in der gesellschaftlichen Hierarchie erkämpfen zu können. Diese bürgerliche Freiheit stellt im Vergleich zu den unmittelbaren Formen des Unterworfenseins von Leibeigenen, Vasallen oder anderen Unfreien im Feudalismus durchaus einen historischen Fortschritt dar. Die durch die bürgerliche Gesellschaft erreichte Verbesserung bestand darin, dass vordem bestehende politische Vorrechte und Benachteiligungen (weitgehend) zugunsten der Gleichheit aller Staatsbürger beseitigt wurden. Die Beschränkung der Gleichheit auf den politisch-rechtlichen Bereich ließ soziale Ungleichheit allerdings ungehindert fortbestehen. In diesem Sinn sollen die Menschenrechte letztendlich bloß gleiche Chancen beim Kampf um die begehrten Positionen im Ungleichheitsgefüge sicherstellen. Ihr Gerechtigkeitsanspruch ist beheimatet im bürgerlich-demokratischen Denkhorizont; was für alle Menschen im gleichen Maß gegeben sein soll, ist untrennbar an Verwertungsbereitschaft und Verwertungsbedarf gekoppelt. Der Appell nach einem für alle gleichermaßen geltenden Recht auf Bildung entpuppt sich unter diesen Umständen als ein Synonym des Anspruchs, dass jeder Mensch, unabhängig von seiner Herkunft, seiner Rasse, seinem Geschlecht, seiner Religionszugehörigkeit …, das Recht haben soll, qua angeeignetem Wissen und Können andere Menschen ausstechen zu können. In diesem Sinn äußerte sich schon der 25-jähige Karl Marx in seinem Aufsatz „Zur Judenfrage“ unter Bezugnahme auf die „Déclaration des droits de l’homme“ von 1793 kritisch: „Vor allem konstatieren wir die Tatsache, dass die sogenannten Menschenrechte […] nichts anderes sind als die Rechte des Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft, d.h. des egoistischen Menschen, des vom Menschen und vom Gemeinwesen getrennten Menschen. […] Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade.“ (Marx 1976: 364) Und etwas später im Text: „Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist.“ (Ebd.: 366) Auch in seinen späteren Schriften streicht Marx immer wieder die im Tauschwertsystem begründete individualistische Verengung der Menschenrechte hervor, so zum Beispiel wenn er in den „Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie“ schreibt: „Das allgemeine Interesse ist eben die Allgemeinheit der selbstsüchtigen Interessen. […] Gleichheit und Freiheit sind also nicht nur respektiert im Austausch, der auf Tauschwerten beruht, sondern der Austausch von Tauschwerten ist die […] reale Basis aller Gleichheit und Freiheit.“ (Marx 2006: 168)

Wie der Bildungsbegriff hat auch die Idee der Menschenrechte ihren Ursprung im Gedankengut der Aufklärung, jener historischen Epoche, in der die bewusstseinsmäßigen Voraussetzungen für das bürgerliche Zeitalter und den Kapitalismus begründet wurden. Von der Anerkennung der Naturrechte des Menschen bei Thomas Hobbes bis zur Durchsetzung der Menschenrechte als Legitimation des bürgerlich-demokratischen Staates bei Rousseau und Kant lässt sich eine durchgehende Entwicklungslinie nachzeichnen. Im Gefolge der in ersten Ansätzen in der Renaissance beginnenden Abkehr von der Annahme eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an Natur und Vorsehung etablierte sich mit Beginn der Neuzeit auch der Gedanke der grundsätzlichen Gleichberechtigung der Menschen. In der bürgerlichen Gesellschaft traten dann an die Stelle der „Vorrechte der Geburt“ individuelle Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit als Kriterien der Positionsverteilung.

Zur Legitimierung dieser veränderten gesellschaftlichen Situation war es notwendig, das Subjekt in einer – gegenüber der bis dahin geltenden Sichtweise – weitgehend veränderten Form wahrzunehmen: Es wird nun von einer dem Menschen innewohnenden autonomen Kraft der Selbstverwirklichung ausgegangen, einer Instanz des Erkennens und des Handelns, die ihre Grundlage nicht in den auf sie wirkenden äußeren Bedingungen, sondern in sich selber hat. Diese Interpretation des Subjekts wird zum Ansatzpunkt neuzeitlicher Pädagogik – Bildung wird nun nicht mehr als Modifikation im Sinne von – göttlichen – Vorgaben verstanden, sondern als Selbstbefreiung des Subjekts in Form fortschreitender Entbindung der in ihm angelegten Potentiale der Autonomie. Sie korreliert mit der Bereitschaft, „an sich selbst zu arbeiten“ und „aus sich etwas zu machen“. Das als „Souverän seiner selbst“ apostrophierte Individuum soll sich permanent (selbst﷓)produzierend weiterentwickeln. In diesem Sinn war Bildung – wie Lederer (2009: 33) unter Bezugnahme auf Lenz (2005: 12) formuliert – von allem Anfang an „nicht ,,nurʻʻ Menschenrecht, sondern zugleich immer auch ,,Menschenpflichtʻʻ! Bildung ist ,,Arbeit an uns selbstʻʻ“! Der Mensch steht als notorisch unfertiges Subjekt unter dem „Diktat fortwährender Selbstoptimierung“. „Unter dem Titel der ,Freiheitʻ als Unabhängigkeit suggeriert Bildung die Möglichkeit einer nur auf (zuallererst hervorzubringender) Allgemeinheit bezogenen Aus- und Entfaltung aller Kräfte und Fähigkeiten, so dass Selbstsein schließlich als Selbststeigerung praktiziert werden muss.“ (Ricken 2006: 339)

Aus der skizzierten Interpretation des Subjekts ergibt sich zum einen der die Menschenrechte begründende Gerechtigkeitsanspruch, niemand solle von den Möglichkeiten dieser Form der Selbstverwirklichung ausgeschlossen sein. Zum anderen folgt aus der Vorstellung, dass es Aufgabe des Subjekts sei, die in ihm schlummernden Autonomiepotentiale zur Entfaltung zu bringen, die Möglichkeit, diesbezüglich mehr oder weniger erfolgreich zu sein. In Ermangelung eines objektiven Erfüllungskriteriums der geforderten Selbstproduktionsleistung steht allerdings nur der Vergleich mit anderen Subjekten und deren gesellschaftlicher Anerkennung zur Verfügung. „[D]er Einzelne [kann] gar nicht anders, als sich in seinen Selbstverhältnissen auf die Erwartungen zu beziehen, die andere an ihn stellen“ (Bröckling 2007: 28) und die sich aus dem gesellschaftlichen Status quo ableiten. Er steht unter dem Druck, permanent seinen jeweiligen Rangplatz am „Markt der Subjekte“ eruieren zu müssen. Die Folge ist, dass Konkurrenz die alles dominierende Bestimmungsgröße des sozialen Lebens in der auf das souveräne Subjekt aufbauenden bürgerlichen Gesellschaft ist; Gesellschaftsmitglied zu sein heißt, allen anderen als (formal gleichwertiger) Kontrahent gegenüberzustehen. „Im Menschenrecht werden Individuen zu Subjekten geformt. Als Subjekte erkennen sie sich selbst als ihr Eigentum an, und die Subjektform wird in Bezug auf die Individuen zu dem, was der Tauschwert in der Ökonomie für den Gebrauchswert darstellt: die Subjektform stellt die Vergleichbarkeit der Individuen her. […] Das bürgerliche Subjekt erlangt Identität nicht aus sich selbst, sondern aus der Abgrenzung gegenüber ,Über- und Unterwertigenʻ, […] ihre sozialen Beziehungen [erscheinen] ihnen als dingliche Beziehungen zwischen Waren“ (Grigat 1996: 13) und Konkurrenz als quasi „natürliche“ Form des sozialen Lebens. Die Notwendigkeit, sich permanent gegenüber Rivalen in Stellung bringen zu müssen, lässt alle menschlichen Fähigkeiten – auch sein (Weiter﷓)Entwicklungspotential – nur mehr unter dem Fokus des Ergreifens von Marktchancen ins Bewusstsein treten. Auch die Tatsache, dass der Mensch kein von der Natur in enge Bahnen gezwungenes Wesen besitzt, sondern die Möglichkeit hat, sich durch Lernen selbstbestimmt eine Gestalt geben zu können, unterliegt der alles überstrahlenden Konkurrenzprämisse der gegebenen politisch-ökonomischen Ordnung.

Alles darf Ware sein – nur Bildung nicht

Die angesprochene Interpretation des Individuums, einerseits als souveränes Subjekt, das sich aber andererseits selbst als einer Ware gegenübersteht, die es im Sinne der aus Markt und Konkurrenz abgeleiteten Vorgaben zu bearbeiten gilt, bedingt die eigentümliche Sonderstellung, die Bildung in den sich auf die Menschenrechte berufenden vermarktungskritischen Forderungen genießt. Tatsächlich ist es ja einigermaßen erstaunlich, dass diejenigen, die das Zur-Ware-Werden von Bildung bedauern, es in der Regel kaum je eines Protestes für würdig halten, dass andere für Menschen durchaus notwendige Dinge, wie Nahrung, Kleidung, Behausung und Ähnliches, unter den gegebenen politisch-ökonomischen Bedingungen ganz selbstverständlich nur gegen Geld zu haben sind. Wer Speis’ und Trank nicht zu zahlen imstande ist, hat „Pech gehabt“ und bekommt nichts – da mögen seine Bedürfnisse noch so dringend und seine Argumente noch so überzeugend sein. Die Triebkraft des Kapitalismus ist der Kampf um die optimale Rendite, und ein derartiges „Plusmachen“ (Marx) stellt mit Gütern, die für Menschen überlebensnotwendig sind, ein – im wahrsten Sinne des Wortes – todsicheres Geschäft dar. Dennoch entzündet sich der Protest gegen den allumfassenden „Sog der Ware“ kaum je daran, dass in diesem System ein „Recht auf Leben“ generell nur hat, wer sich die dafür erforderlichen materiellen Grundlagen kaufen kann. Offenbar sind die „Kämpfer gegen die Kommerzialisierung von Bildung“ der Meinung, dass der Tausch von Waren gegen Geld durchaus in Ordnung ist, solange nur Bildung davon nicht betroffen ist. (Nur) für Bildung darf offenbar nicht gelten, was für die Befriedigung von Bedürfnissen im Kapitalismus generell gilt, dass diese nur gegen Bares zu haben ist – ohne jede Rücksicht auf die unterschiedlichen Möglichkeiten von Menschen, sich dieses zu verschaffen (vgl. Huisken, 2009).

Die Fragwürdigkeit der Aussage, dass Bildung ein Menschenrecht sei und deshalb nicht auf den Status einer Ware degradiert werden dürfe, beginnt schon mit der in der Forderung enthaltenen Aussage, dass Bildung bisher nicht dem System von Ware und Konkurrenz unterworfen gewesen wäre und erst neuerdings (im Neoliberalismus) zu einer Ware gemacht würde. Diese vergangenheitsverklärende Annahme ist grundsätzlich falsch; wie schon skizziert, stellt die mit dem Bildungsbegriff untrennbar verknüpfte Subjektvorstellung nachgerade die ideologische Grundlage des gesellschaftlichen Systems dar, in dem die Entwicklungsfähigkeit von Menschen zur Investition im Kampf um mehr oder weniger gute Bedingungen des Lebens geworden ist. Wissen wurde schon vor mindestens 150 Jahren im Gefolge der wissenschaftlich-technischen „zweiten industriellen Revolution“ und dem Heraufdämmern der modernen Ökonomie zur Ware, und der Bildungsbegriff dient spätestens seit damals der ideologischen Verbrämung dieser Tatsache – das hat Friedrich Nietzsche übrigens bereits Ende des 19. Jahrhunderts festgestellt. Was hierzulande mit dem Begriff Bildung geadelt wird, hat Warencharakter, seit sich die Vorstellung durchgesetzt hat, dass nicht Geburtsprivilegien, sondern Leistungsfähigkeit und Leistungswilligkeit über die gesellschaftlichen Überlebensmöglichkeiten von Menschen entscheiden sollen. Und wenn auch der bürgerliche Anspruch nach Chancengleichheit beim Wettbewerb um das Erbringen systemadäquater Leistungen bis heute noch nicht völlig umgesetzt ist, ist und bleibt Bildung eine Ware, „solange sich Menschen, ausgestattet mit keinem anderen ,Vermögenʻ als einem intakten Körper, einem mehr oder weniger ausgebildeten Verstand und einem guten Willen, auf die Suche nach einer Verdienstgelegenheit machen müssen. Dann haben sie sich mit all dem, was sie an erlernter und brauchbarer Ausbildung aufzuweisen haben, als Ware auf einem für sie vorgesehenen Markt anzubieten.“ (Ebd.: 3)

Dass Bildung eine Ware sei, ist absolut keine Neuigkeit, das tatsächlich Neue besteht in der Tatsache, dass sich in den letzten Jahren – einerseits bedingt durch den sich verringernden Bedarf an menschlicher Arbeitskraft aufgrund der Informations- und Kommunikationstechnologie und andererseits durch die ebenfalls auf Basis der neuen Technologien möglich gewordenen Verlagerungsmöglichkeit von arbeitskraftintensiven Produktionen in Billiglohnländer – die Intensität des Kampfes jeder gegen jeden massiv verschärft hat. Auf allen Qualifikationsstufen ist der Konkurrenzkampf um Lohnarbeitsplätze härter geworden, und für Menschen, die keine auf die aktuellen Markterfordernisse zugeschnittene Qualifikation vorweisen können, wird es immer schwerer, überhaupt noch einen „Abnehmer für ihre Arbeitskraft“ zu finden. Selbst Akademiker können heute nicht mehr sicher sein, dass sie die „Investitionskosten für ihre Arbeitskraftveredelung“ in Form eines entsprechend hohen Einkommens wieder einspielen können. In dieser Situation erfährt die neuzeitliche Interpretation des Subjekts eine noch einmal verschärfte Interpretation. Über die Bereitschaft hinaus, sich als Ware am Markt feilzubieten und das Leben als „Verwertungswettbewerb“ wahrzunehmen, wird vom Normalsubjekt nun erwartet, dass es dem Markt „proaktiv“ gegenübertritt, indem es sich als „Unternehmer seiner selbst“ begreift und sich die Zwänge, die zur Lebens- und Wettbewerbsfähigkeit seiner selbst als Unternehmen erforderlich sind, selbst auferlegt. Eine derartige „unternehmerische Persönlichkeit“ fühlt sich nicht nur für die Vermarktbarkeit ihrer selbst, sondern auch für ihre eigene Vermarktung verantwortlich – quasi wartet sie nicht auf die Aufforderung zum Funktionieren, sondern funktioniert aus eigenem Antrieb im Sinne der bestmöglichen Marktperformance ihrer selbst als Unternehmen. Zunehmend hat demgemäß nur mehr Chancen, einen Erlös für die eigene Arbeitskraft lukrieren zu können, wer für die Reproduktion, Modernisierung, Gesundhaltung, Erweiterung … seiner selbst als Ware auch selbst die Verantwortung übernimmt. Unter diesen das ganze Leben vereinnahmenden verschärften Konkurrenzbedingungen desavouiert sich die bisherige Verbrämung des den Menschen auferlegten Lernens als Möglichkeit des Hervorbringens des mündigen, selbstbewussten und kritischen Individuums zunehmend als Ideologie. Es wird kenntlich, dass Menschen, deren einziges „Kapital“ in ihrer mehr oder weniger gut ausgebildeten Arbeitskraft besteht, kaum Spielraum bezüglich des Gebrauchs ihres Lernvermögens haben – es muss der Steigerung ihres Marktwerts untergeordnet werden, sie müssen lernen, was der Markt verlangt. (Aus﷓)Bildung wird zum Überlebensgut – und da der Handel mit diesem ja bekanntlich ein besonders sicheres Geschäft darstellt, wird der Bildungsbereich zunehmend zu einem unter privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten interessanten Feld.

Bildung durch konkurrenzorientiertes Lernen?

Dass gerade in dieser Situation der Ruf nach „Bildung als Menschenrecht“ besonders häufig zu hören ist, hängt zum einen mit der naiven Hoffnung zusammen, es wäre irgendwie möglich, den Moloch der Verwertung auszutricksen und ihn nur eingeschränkt zur Geltung kommen zu lassen. Der Zugang zu Bildung soll dem Verwertungsdiktat entzogen und für alle kostenfrei möglich sein – absurderweise allerdings genau deshalb, um damit für jeden die gleiche Möglichkeit zu schaffen, seine Verwertbarkeit unter Beweis stellen zu können. Neben diesem ziemlich verqueren Gerechtigkeitsargument wird mit dem Einklagen des für jedermann gegebenen Rechts auf Bildung häufig aber noch ein weiteres, ebenfalls auf ziemlich tönernen Füßen stehendes Argument transportiert: Es wird davon ausgegangen, dass sich Bildung, unabhängig von den konkreten Zielsetzungen und Bedingungen, unter denen Lernprozesse stattfinden – quasi „über die Hintertür“ –, als Emanzipation realisieren würde. Dass also – auch wenn das Leben der Menschen weitestgehend vom Verwertungsdiktat vereinnahmt ist und sie ihre Fähigkeit, sich durch Lernen zu verändern, deshalb auch selbst nur mehr unter dem Fokus der Verbesserung ihrer Marktchancen wahrzunehmen imstande sind – die ihnen zum Zwecke der Optimierung ihrer Verwertbarkeit nahegebrachten Kenntnisse und Fähigkeiten klammheimlich dennoch eine emanzipatorische Wirkung entfalten könnten. Gehofft wird auf den sprichwörtlichen „qualitativen Sprung“. Entgegen dem Zweck seiner Ingangsetzung wird dem Lernen eine quasi subversive Kraft zugeschrieben, die auch dann durchzubrechen imstande ist, wenn das Lernen dem Ziel der Verwandlung lebendiger Menschen in taugliches Humankapital untergeordnet ist. Bildung wird in dieser Vorstellung als eine Art anthropologische Konstante betrachtet – der Mensch wird nicht nur als bildungsfähig angenommen, es wird davon ausgegangen, dass ihm Bildung, als die Fähigkeit, sich dem Status quo kritisch gegenüberzustellen, immanent ist, und zwar mehr oder weniger gefördert, aber als Effekt von Lernprozessen nicht endgültig verhindert werden kann.

Auf Basis dieser Argumentation wird zwar konzidiert, dass Bildung als ein systematischer Prozess des Hervorbringens von Autonomie, Mündigkeit, Selbstbewusstsein – und wie die idealistischen „Zauberwörter der Pädagogik“ sonst noch heißen mögen – im Rahmen organisierter Bildungsprozesse vielfach nicht ausreichend gefördert würde. Zwar wären die „Bedingungen der Möglichkeit von Bildung“ in den so genannten Bildungseinrichtungen tatsächlich oft nur suboptimal – da sich Bildung durch Lernen aber sowieso nicht wirklich verhindern ließe, wäre es aus emanzipatorischer Perspektive dennoch erstrebenswert, möglichst vielen Menschen möglichst lange die Möglichkeit zu eröffnen, an organisierten Lernprozessen teilzunehmen. Die gegebene Lernkultur wird nicht als ein „sich aus dem kapitalistischen Verwertungsdiktat ergebendes Übel“ interpretiert und der „Notdurft des Daseins“ zugerechnet, sondern Lernen wird – bei aller bisweilen gegebenen Kritik an den konkreten Rahmenbedingungen, unter denen es den Menschen unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen „anempfohlen“ wird – grundsätzlich als etwas Positives, Menschen Bereicherndes sowie etwas, das ihre Menschlichkeit befördert, gesehen. Implizit in Abrede gestellt wird in dieser Argumentation, dass es nicht bloß bestimmte Formen und Inhalte, sondern das dem Menschen als Freiheit angediente Lernen als solches ist, mit dem sie an die Kandare der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft genommen werden; dass also jedes im Sinne des Systems stattfindende Lernen von vornherein durch das Verwertungsdiktat „kontaminiert“ ist, deshalb per se anti-emanzipatorisch wirkt und die idealistische Vorstellung von „Bildung als Selbstbefreiung“ ad absurdum führt.

Foucault verdanken wir den Hinweis, dass Macht und Freiheit keineswegs in einem Ausschließungsverhältnis zueinander stehen müssen, sondern dass – ganz im Gegenteil – das in einem politischen System mit dem Nimbus der Freiheit Behaftete durchaus Voraussetzung und Träger – letztendlich also Existenzgrundlage – von Macht sein kann (vgl. Foucault 1994: 256). In diesem Sinn stellt die mit dem Menschenrecht auf Bildung korrelierende Freiheit, qua Lernen jede gesellschaftliche Position erreichen zu können, ein Element der Gouvernementalität des bürgerlich-kapitalistischen Systems dar. Es ist, wie Ricken schreibt, „die in ,Bildungʻ implizierte wie explizit formulierte und gesellschaftlich praktizierte ,Illusion der Souveränität und Unabhängigkeitʻ, die als Freiheit sich anpreist und Ohnmacht produziert“ (Ricken 2006: 213). Die als Freiheit präsentierte Möglichkeit, gleichberechtigt am „Kampf um gute Futterplätze“ teilnehmen zu dürfen, unterbindet systematisch die Erkenntnis, dass der „faire Wettbewerb“ innerhalb eines menschenverachtenden und die Lebensgrundlagen der Menschen zerstörenden Systems stattfindet und dieses aufrechterhält. Es ist nicht möglich, dass Lernen Menschen für das Verwertungssystem tauglich macht und zugleich die Grundlage einer Bildung abgibt, die sich als Selbst- und Welterkenntnis begreift und das Ziel hat, Menschen zu befähigen, die (verdeckten) Strukturen der Macht hinter den ihnen auferlegten Verhältnissen des Lebens durchschauen und überwinden zu können. Unter den gegebenen Bedingungen hat Lernen die Funktion, Menschen der Verwertung zuzuführen, es ist in diesem Sinne korrumpiert und kann nicht Grundlage ihrer Emanzipation sein. Genauso wie sich in den faschistischen Konzentrationslagern – trotz des entsprechenden zynisch-perfiden Spruchs über deren Eingangstoren – niemand durch Arbeit tatsächlich befreien konnte, macht auch das den Menschen unter Androhung ihrer sonstigen Deklassierung auferlegte Lernen nicht frei, sondern ist bloß Ausdruck ihrer Unfreiheit. Unter Verweis auf das „Menschenrecht auf Bildung“ für alle Gesellschaftsmitglieder den kostenfreien Zugang zu allen Ebenen des Bildungswesens zu urgieren und zu fordern, dass jeder gleichberechtigt am Konkurrenzkampf teilhaben können soll, bedeutet letztendlich nur, auf die Umsetzung des Gründungsversprechens der bürgerlichen Gesellschaft – die „politische Emanzipation“ – zu drängen. Mit der Ermächtigung zum Widerstand gegen die „Zumutungen des Verwertungssystems“, dagegen also, „dass man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert wird“ (Foucault 1992: 12), hat das allerdings nichts zu tun!

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Zuerst erschienen auf r www.streifzuege.org. Der Beitrag ist Teil des Buches
Bildung – Kampfbegriff oder Pathosformel.
Über die revolutionären Wurzeln und die bürgerliche Geschichte des Bildungsbegriff. Löcker Verlag Wien 2011

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Literatur

Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer TB-Verlag, Frankfurt/Main 2000.

Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform. Suhrkamp, Frankfurt/Main 2007.

Foucault, Michel: Das Subjekt und die Macht. In: Dreyfus, Hubert L./Rabinow, Paul: Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Weinheim 1994.

Foucault, Michel: Was ist Kritik? Merve, Berlin 1992.

Grigat, Stephan: Kritik der Nation. In: Unitat (Wien) 4/1996, S. 13.

Huisken, Freerk: Bildung darf keine Ware werden! In: Auswege – Perspektiven für den Erziehungsalltag. Online-Magazin für Bildung, Beratung, Erziehung und Unterricht. www.magazin-auswege.de (8.12.2009).

Lederer, Bernd (2009): Was ist eigentlich Bildung? pdf-Dokument unter http://www.uibk.ac.at/ezwi/team/assistenten/bernd_lederer/person.html (September 2011).

Lenz, Werner: Bildung im Wandel. Studientexte Arbeit ‒ Bildung ‒ Weiterbildung, Band 1., LIT-Verlag, Wien 2005.

Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band. Berlin 1988. S. 828.

Marx, Karl: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie. Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) Band 1. Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006.

Marx, Karl: Zur Judenfrage. Marx-Engels-Werke (MEW), Band 1. (Karl) Dietz Verlag, Berlin/DDR 1976. S. 347‒377.

Ricken, Norbert: Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006.

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Freitag, 15. März 2024
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Freitag, 23. Feber 2024
r DEMO GEGEN RECHTS - DEMO PROTI DESNO
Klagenfurt Stadttheater

Donnerstag, 8. Feber 2024
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Donnerstag, 18. Jänner 2024
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Samstag, 21. Oktober 2023
r Das ist uNser Haus!
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Mittwoch, 6. September 2023
r DIE GEMOCHTEN
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Mittwoch, 23. August 2023
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Freitag, 26. Mai 2023
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Donnerstag, 23. Juni 2022
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Die Geschichte Wiens auf Wienerisch. Lesung und Buchpräsentation von und mit Ludwig Roman Fleischer
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