2007-12-16
Leichenschmaus
Es ist ganz anders bei den großen Begräbnissen, wenn aus dem Tal die Menschen kommen, in Scharen durch den Vordereingang des Dorfes einfallen, und den Leichnam bringen unter dem Getöse der Kapelle aus der Fabrik. Dahinter schnaufen die schweren Autos den Berg herauf und bleiben in langen Reihen am Straßenrand bis weit unter dem Dorf stehen. Die Kinder zählen die den Waldkäfern nachgebildeten Monstren und leiten davon die Ehrbarkeit des Verstorbenen ab. Je mehr Autos den Ort umschließen, desto größer ist der Glaube der Menschen an ein einflussreiches Wort an bestimmten Stellen zu seinen Lebzeiten gewesen.
Aus dem Graben, wo die Toten noch in den Häusern aufgebahrt werden, wird der Sarg in einem langen Leichenzug mit dem Pferdefuhrwerk vom Haus in die Kirche überführt. Der Pfarrer schreitet die Litaneien aufsagend hinter dem Wagen her – im Sommer ein elender Marsch, der oft im Weitergehen stockt – und tritt an die Seite, weil der Geruch des verwesenden, aus den Sarg in den Staub der noch nicht asphaltierten Straße tropfenden Leichnams, den ausgehungerten, von der Verbitterung und vom niedergedrückten Leben ausgezehrten Magen krampft und mit der gelben Galle herauswürgt und über die riesigen Blätter der Klettengewächse, den Spitzwegerich und den Schachtelhalmen und den langen gelben Dolden des Fingerhutes ergießt. In dieser Erschütterung wanken sie in den Monaten der Hitze aus dem Graben zur Kirche hinauf – mehr tot als lebendig – wo sie den Leichnam einlassen in die Erde zur Konservierung für die Ewigkeit. Der Tote gleicht dann einem Insekt in Bernstein oder - in der billigen Version - einem in Kunstharz eingegossenen Stierhoden.
Die Leute aus dem Graben, Menschen dieses Schlages, erholen sich schnell. Sie versammeln sich in ihren schwarzen Röcken, in den neuen, elegant erachteten, in den Kleiderfachgeschäften der in der Ebene liegenden Stadt teuer erstandenen, trotzdem billigen Trauergewändern, und gehen als Geladene zum Leichenschmaus. Sie gehen zur Tafel, die beim Wirt am Platz in der Gaststube und am Tanzboden hergerichtet ist. Bei schönem Wetter wird draußen hinter dem Haus unter den Apfelbäumen ein beachtliches Fass aufgemacht und Krüge und Gläser kreisen. Jedermann nimmt Platz. Auf dem Tischtuch mit Kreuzstich verzierten Sinnsprüchen servieren sie eine Suppe mit eingelegtem Lungenstrudel und später Schweinsbraten mit süßen Erdäpfeln. Die Armen geben Gulasch. Aber alles wird in Bergen serviert. Reichlich nach Mengen und Größe.
„Dem gegenüber war das Hochzeitsmahl des Gamache nur eine Fastenspeise und Rubens´ Kirmes nur eine betrübliche Szene“, sagt der Pfarrer.
Die Geister beleben sich, die Stimmung wird heiter, Scherze werden hin und her geworfen, der Chor der Trunkenen singt, die Gläser werden zum Wohl des Verstorbenes erhoben. Sie trinken auf den Tod und das Leben. Die ersten Betrunkenen fallen unter den Tisch. Wer jetzt erbricht, gibt mit Wohlwollen – es geht so lange, bis er bricht – und wartet auf die Posaune des Untergangs. Wenn im allgemeinen Getümmel der Tanz beginnt, tun sich die Abgründe auf. Zu dem schrecklichen Klang der Leichenmusik stürzen sie paarweise in die Gräben und zeugen unter den Büschen die Totgeburten. Sie alle drehen sich um sich selbst bis zum nächsten Morgen.
Bei den großen Leichen herrscht in den Tagen der Vorbereitung eine reges Kommen und Gehen und in dieser Unruhe nimmt das Gerede der Leute zu, und die Kinder plappern über das eintretende Ereignis.
Mit der letzten Schlachtung aber ist die Sprache in den Hälsen der Leute stecken geblieben, hat sich das Wort zurückgezogen und verborgen. Es kommt nicht aus. War bald im Ort ein Begräbnis eine wilde und entfesselte Orgie, stehlen sich heute die Menschen durch den Hintereingang davon. Ging lauthals sonst alles drunter und drüber und ging alles kurz und klein, hat das Schweigen jetzt eine Ordnung, die das Dorf leer räumt und die Luft klärt von dem Klagen und dem Jammern. Es herrscht eine Totenstille.
Mit freundfreundlicher Genehmigung des Autors:
Axel Karner:
(in: Podium 145/146; Farben, November 2007)