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2006-09-23

Viele Wege führen ins 3. Jahrtausend

Dokumentation eines Vortrages von

Birgit Mahnkopf[1]

Es war ja schon viel über die Hegemonie des Liberalismus die Rede. Viel war auch schon die Rede von dessen Ende, es wurde sogar schon über ein Ende des Kapitalismus spekuliert. Ich muss alle noch mal zurückholen, ich fürchte, wir sind da noch lange nicht durch. Hegemonie muss auch immer wieder neu hergestellt werden, die existiert nicht ein für allemal. In diesem Sinne ist die Etablierung neoliberaler Politikmuster ein unabgeschlossenes Projekt - und davon handeln die folgenden Überlegungen. Ich werde mich zwar auf die SPD konzentrieren, aber ich werde auch begründen, warum eine Entwicklung innerhalb der SPD möglicherweise für andere europäische Länder ganz entscheidende Wirkungen haben dürfte. Also wenn die SPD in die Richtung kippt, in die ich das befürchte, dann wird das auch auf andere europäische Länder Auswirkungen haben.

Meine These lautet, dass die Stabilisierung neoliberaler Hegemonie unter anderem auch davon abhängen wird, inwieweit es gelingt, die mentale Kolonialisierung (das ist ein Begriff von Pierre Bourdieu – nicht meine Wortschöpfung) der Sozialdemokratie durch neoliberales Gedankengut abzuschließen. Ich sehe die Parteispitze der SPD in dieser Richtung ein gutes Stück vorangekommen. Es gibt noch Widerstand innerhalb der Partei, aber der ist nicht besonders stark und nicht besonders durchsetzungsfähig. Und in diesem Sinne denke ich, dass für alle, die an einem alternativen Projekt interessiert sind, die Entwicklung der Debatte innerhalb der Sozialdemokraten mit ihrem sogenannten Dritten Weg (dazu gehören ja nicht nur die Deutschen, sondern insbesondere die Briten, aber mit einer gewissen Modifikation gehören da auch französische Sozialisten dazu) sehr, sehr wichtig ist. Alle, die an einem alternativen Projekt interessiert sind, müssen sich in der Tat im Marx`schen Sinne an einer Kritik der herrschenden Gedanken oder zur Herrschaft drängenden Gedanken versuchen. Und deswegen muss man sich mit eben diesen Argumentationsmustern auseinandersetzen. Es reicht nicht zu sagen „das ist sowieso alles Neoliberalismus, was uns umgibt“, sondern man muss die Argumente, die in diesen Debatten fallen, zur Kenntnis nehmen und auch kritisieren können. In diesem Sinne möchte ich sie bekannt machen mit einer Debatte, die eigentlich in Deutschland eine Allparteiendebatte ist: Die deutschen Grünen sind da ganz spitzenmäßig vorne und die CDU sowieso. Eigentlich ist es eine Debatte der FDP, die aber nur relativ bescheiden daran mitwirkt. Es ist eine Debatte über einen zeitgemäßen Gerechtigkeitsbegriff.

Diese Debatte ist aus der Perspektive der SPD öffentlich gemacht worden als Einstieg in die Debatte über ein neues Parteiprogramm im Frühjahr dieses Jahres [2000]. Da gab´s ein Eröffnungsforum zum Thema Gerechtigkeit, auf dem Scharping, Wolfgang Klement, der Ministerpräsident, Anthonie Giddens und viele andere referiert haben. Dem folgt jetzt im September ein Forum zum Grundwert Freiheit, und dann gibt´s noch ein Forum zum Grundwert Solidarität.

Was sich da ankündigt, ist in der Tat eine Kehrtwende, die ich als gleichsam zweiten Revisionismus bezeichnen würde. Mit dieser Debatte möchte ich Sie ein bisschen vertraut machen. Und ich möchte auch in Bezug zum Tagungsthema zeigen, dass gewaltförmige Konsequenzen damit verbunden sind, wenn es gelingen sollte, eine Neudefinition von Gerechtigkeit in diesem Sinne durchzusetzen. Ich wiederhole: die SPD spielt da eher ein Nachzugsgefecht. Aber mir ist es ganz wichtig, über die SPD zu sprechen, weil das war ja bislang die Partei der sozialen Gerechtigkeit und deswegen ist es ganz wichtig, wenn sie diesen Schwenk durchzieht. Jean Ziegler hat einmal die Alchimisten Funktion der Sozialdemokratie herausgestrichen und die These aufgestellt, seit 1989 sei diese Alchimistenfunktion der Sozialdemokratie entbehrlich geworden. So wie die mittelalterlichen Alchimisten versucht haben, Blei in Gold zu verwandeln, so hätten die Sozialdemokraten mit einigem Erfolg versucht, die Angst vor dem Kommunismus in sozialen Fortschritt umzumünzen. Seit 1989 hat niemand mehr Angst vor dem Kommunismus und folglich – so die These von Ziegler - ist auch diese Alchimistenfunktion der Sozialdemokratie entbehrlich geworden. Das wäre nicht so erstaunlich, wenn das eine Sichtweise der Liberalen wäre, also jener Alternativen Ideologie, die einen jahrhundertelangen Kampf mit der Sozialdemokratie geführt hat, aus deren Sicht sind in der Tat solche Vorstellungen von sozialem Fortschritt entbehrlich geworden mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Dass allerdings die Sozialdemokraten selber meinen, ohne der Idee des sozialen Fortschritts auskommen zu können, ist befremdlich und erklärungsbedürftig und das möchte ich versuchen.

Es geschieht unter der Fahne des sogenannten Dritten Weges. Diese „Dritte-Wegsphilosophie“ stammt ursprünglich aus den USA. Sie wurde dann insbesondere durch Anthony Giddens – einen britischen Sozialwissenschaftler, der sich als medienpräsenter Intellektueller angeboten hat, Tony Blair zumindest, und jetzt inzwischen auch immer im Tross von Gerhard Schröder marschiert und bei jeder Gelegenheit auftritt - populär gemacht. Mit dem Dritten Weg ist eigentlich die Idee verknüpft, es gebe einen Pfad zwischen dem Neoliberalismus - also der Marktradikalisierung - und der Vision eines starken Staates. Schröder drückt es als goldenen Mittelweg zwischen dem Modernisierungspfad des Neoliberalismus und der bürokratisch denkenden Staatsfixiertheit aus. Das Perverse ist, dass er damit nichts anderes als den Sozialstaat der 70er Jahre meint, der ja schon in den 80er Jahren ziemlich abgebaut worden ist.

Die 3 Stoßrichtungen der "3.-Weg-Ideologie

Der Dritte Weg mit all den verschiedenen seltsamen, plakativen Formulierungen, die aber zum Teil so formuliert sind, dass man dahinter nicht unbedingt die Intention entdeckt, hat aus meiner Sicht im Prinzip drei Kernstoßrichtungen:

1) Globalisierung ist zu akzeptieren: Von Margret Thatchers ist der Begriff TINA überliefert: There is no alternative! Dieses Wort von der Alternativlosigkeit ist auch für die Sozialdemokraten verbindlich. Wir könnten Globalisierung nur als Chance begreifen, die Probleme sind relativ gering, mehr Chance als Risiko. Und Politik hat vor allen Dingen nicht gegenzusteuern, sondern Anpassung der gesellschaftlichen Verhältnisse an die Anforderungen der Globalisierung zu betreiben. Das bedeutet konkret umgesetzt: Politik hat vor allen Dingen die Aufgabe, die Menschen marktfähig zu machen, sie in die Lage zu versetzen, unter den veränderten, schwierigeren Bedingungen konkurrenzfähig zu werden und zu bleiben. So wird die Aufgabe von Politik im Sinne des Dritten Weges definiert. Das impliziert natürlich eine Neudefinition der Rolle des Staates. Das ist damit ganz klar gesagt. Der Staat soll steuernd, nicht mehr schützend auftreten, er soll - so lautet die Formulierung immer wieder - „aktivierend und moderierend“ auftreten. Nun werden sie sich fragen „na ja, was soll denn diese Begriffshuberei; was ist denn ein aktivierender Staat, was ist ein moderierender Staat. Ist das nicht irgendwie das selbe wie ein steuernder Staat?!“

Nein, ist es nicht. Aktivierend heißt, der Staat solle in erster Linie die Menschen zu Selbsthilfe aktivieren. Insbesondere sie dazu treiben, sich im Arbeitsmarkt in irgendeiner Weise nützlich zu machen. Und ich will auch aus dieser Debatte, die ich vorhin gerade erwähnt habe, eine Formulierung von Rudolf Scharping mitgeben, damit Sie wissen, wie sich die Sozialdemokratie einen aktivierenden Staat vorstellt: „Erst kommt das Individuum und dann kommt die sogenannte Zivilgesellschaft!“ In der Formulierung der Sozialdemokraten kommt da auch noch das Prädikat „bürgerliche“ Zivilgesellschaft oder so etwas ähnliches dabei heraus als Unbegriff, aber sei es drum, „und erst wenn sowohl das Individuum wie die Netzwerke versagt haben, erst dann soll der Staat als Lazarettwagen eingreifen.“ Das ist die Formulierung unseres Verteidigungsministers. „Als Lazarettwagen“ das heißt quasi dann, wenn gar nichts mehr geht, also kurz vor dem Exitus, da soll der Staat eingreifen, aber nicht vorher. Das ist mit der Idee des aktivierenden Staates verknüpft und das muss man sich vor Augen führen: Wenn man das dann übersetzt in konkrete Sozialpolitik, kommen da nämlich relativ einschneidende Maßnahmen heraus, aus diesen sehr seltsamen, beschönigenden Begriffen.

Auch die Formulierung des moderierenden Staates klingt erst mal nett, aber ist so nett nicht gemeint. Der Punkt ist: Ein Moderator ist jemand, der Menschen miteinander ins Gespräch bringt, die ihre Interessen zu artikulieren wissen. Diejenigen, die das nicht können, deren Interessen können auch nicht moderiert werden. Und wenn ein Moderator es mit relativ kräftigen Stimmen zu tun hat - das wissen wir aus jeder Fernsehtalkshow – dann haben die einen einen gewissen Vorrang, dann richtet sich die Kamera da drauf. Und genau das ist das Problem bei der Moderatorenrolle des Staates, dass diese unverfassten ökonomischen Mächte – von denen wir ja gestern schon relativ viel gehört haben – in der Tat die kräftigere Stimme haben. Und im moderierenden Staat - in Gestalt von Herrn Schröder - heißt es zum Beispiel : Wenn Holzmann pleite geht, wird dem Unternehmen geholfen. Aber einem kleinen Krauter natürlich nicht. Wenn die Atomlobby auftritt, dann werden deren Interessen selbstverständlich moderiert, so dass die Gewerkschaften oder wer auch immer dem sich beugen müssen. Und in dem Sinne möchte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass diese Begriffshuberei nicht nur so Spielerei ist, sondern dass dahinter Konzepte stecken, die man als solche kritisieren muss.

2) Attraktiv werden für mobile Produktionsfaktoren: Mobile Produktionsfaktoren sind Geldvermögensbesitzer, sind Kapitalbesitzer, aber es sind auch die sog. „High- potentielles“. Das sind diejenigen Arbeitskräfte, die mit seltenen oder jedenfalls vom Markt begehrten Qualifikationen ausgestattet sind und deshalb in der Lage sind, sich über Grenzen hinweg zu bewegen bzw. ihre Arbeitskraft da anzubieten, wo es halt dafür besonders viel Geld gibt. Um diese Faktoren attraktiv zu machen, muss ich eine andere Politik machen, als das Sozialdemokraten bislang getan haben. Nämlich Vorrang von Inflationsbekämpfung, Geldwertstabilität als erstes! Das bedeutet zum Beispiel auch, Haushaltsdefizite als erstes abzubauen. Sie haben ja vielleicht mitbekommen, dass es Streit um das viele Geld aus der Versteigerung dieser UMTS- Lizenzen gibt: Alle wollen das Geld voll einsetzen, um den Schuldenabbau zu betreiben. Der Finanzminister will aber die eingesparten Zinsen irgendwie sozial- oder bildungspolitisch einsetzen. Nicht alles, aber ein bisschen. Und ein bisschen für Verkehr. Die Grünen in Deutschland haben sich dadurch hervorgetan, dass sie dafür plädieren, auch noch die Zinsen insgesamt für den Abbau der Schulden einzusetzen. Soviel, um klar zu machen, wie die Fronten da laufen: Wenn ich hier über die Sozialdemokratie spreche, dann könnte ich noch eins drauf setzen, wenn ich das Ganze jetzt als Gerechtigkeitsdiskussion für die deutschen Grünen darstellen würde.

Diese Politik bedeutet aber auch Förderung von High-Tech-Industrien vor der sog. Old Economy.

Das bedeutet auch Verklärung des Selbstunternehmertums. Neue Selbstständigkeit – „Start Ups“ heißen die neuerdings - egal ob man da quasi ein „Einpersonen- Unternehmen“ als Alternative zur Arbeitslosigkeit gründet oder aber ernsthaft Beschäftigte einstellen kann. Also die Verklärung von Unternehmertum, Selbstunternehmertum anstelle von Arbeitnehmern und es bedeutet auf jeden Fall auch eine Verklärung von Individualisierungstendenzen. Es gibt Individualisierungstendenzen in der Gesellschaft, gar keine Frage, aber ich werde später noch mal darauf zurück kommen.

Es ist eine Sache, Trends festzustellen - nämlich z.B. Zerfall von Familie, Notwendigkeit individueller Sicherungssysteme (weil die familiäre Kontexte das nicht mehr tragen) - aber es ist eine andere Sache, diese Trends zu forcieren. Und genau das ist damit gemeint, wenn der Trend zur Individualisierung aufgegriffen und gesagt wird: „.. und deswegen ist eine Umlagefinanzierung in der Altersversicherung nicht mehr möglich!“. Das heißt, ich forciere einen solchen Trend, indem ich jungen Menschen ganz frühzeitig sage, ihr müsst auf jeden Fall eine kapitalgedeckte Altersvorsorge (am besten schon mit fünfzehn) beginnen, denn sonst kommt ihr nämlich nicht mehr darauf, im Alter irgendeine Sicherung zu haben.

3) Abschied von der Arbeiterbewegung: Dieses 3. Element des sogenannten Dritten Weges ergibt sich logisch aus den zuvorgenannten beiden Elementen, dem TINA-Syndrom und der Förderung der mobilen Produktionsfaktoren. Abschied von der Arbeiterbewegung drückt zum Beispiel Anthony Giddens – der ja bei solchen Gelegenheiten immer wieder auftritt – ganz unverblümt in der Formulierung aus: „.. die Sozialdemokratie müsse sich von den Arbeitnehmern und den sozial Schwachen, von ihrer Fixierung darauf, lösen..“, das sei quasi „eine nicht mehr relevante Klientel, weil sie halt allzu schwankend sei in ihren Voten.“ Dieser Abschied von der Arbeiterbewegung heißt auch - und das ist ganz wichtig - dass Gewerkschafter nur noch als eine Lobby unter vielen Anderen betrachtet werden. Und das ist sehr dramatisch. Das ist sicher noch nicht so weit in Österreich, aber das ist vermutlich hier genauso nachvollziehbar. Die Gewerkschaften haben auch hier in Österreich nie politisch agiert, sondern sie hatten immer die Sozialdemokratie als ihren politischen Arm. Wenn die Sozialdemokratie sich jetzt aber von den Gewerkschaften verabschiedet, und sie als eine Lobbyorganisation wie jede andere wahrnimmt, die Gewerkschaften es aber nicht gewohnt sind, ihre Forderungen zu politisieren, dann läuft das auf eine radikale Schwächung der Gewerkschaften hinaus. So wenn sie – was in Deutschland und auch in anderen europäischen Ländern der Fall ist – sich wie in der Vergangenheit in Sozialpakte - in Produktivitätsbündnisse - einbinden lassen. Das heißt, im Konsens mit der Regierung versuchen, etwas zu regeln. Aber wenn die Regierung nicht mehr in ihrem Sinne operiert, sondern noch in diesem Sinne des Stillstellens, dann ist das relativ dramatisch und es ist absehbar, dass das zu einer Schwächung der Gewerkschaften führt. Ich will nicht sagen in amerikanische Dimensionen hinein, aber tendenziell hat es etwas davon. Ich halte den Modernisierungskurs der SPD für politisch fatal. Es gibt noch starke Widerstände innerhalb der Partei, aber die Regierung – weil sie im Augenblick ja so furchtbar erfolgreich ist – kriegt da relativ wenig Druck von eben diesen anderen Kräften in der Partei. Ich halte es deswegen politisch für so brisant, weil ich der Meinung bin, dass die soziale Kohäsion in der Gesellschaft möglicherweise durch eine solche modernisierte Sozialdemokratie sehr viel stärker gefährdet wird als durch alles, was an Wendepolitik unter der konservativen Regierung Kohl in sechzehn Jahren erreicht worden ist. Auf diese Art und Weise ist in der Tat jede Opposition verschwunden ist. Die kleinen Leute haben keine parteipolitische Stimme mehr und können eigentlich gar nichts anderes mehr, als diesen rechtsradikalen Rattenfängern zum Opfer zu fallen. Die PDS ist irgendwie eine Ostpartei geblieben und sie wird es auch bleiben. Das heißt, es hat keine Relevanz für Westdeutschland, was da von Seiten der PDS irgendwie noch als linke Opposition übrig geblieben ist. Das ist aber nur ein Argument, dass es gleichsam keine Opposition gibt. Deswegen könnte diese Art von Zerreißprobe, unter die die deutsche Gesellschaft durch so eine gewendete SPD gestellt wird, in der Tat eklatanter sein als das, was die CDU da bislang geschafft hatte.

Sollte sich diese Modernisierung auch nur ein Stück weit in Politik umsetzen, so wäre in der Tat der Schritt in Richtung eines US-amerikanischen Modells von Kapitalismus vollzogen. Allerdings mit einigen korporatistischen Zügen, also mit einer pazifizierten und nicht mit einer frontal angegangenen Gewerkschaftsbewegung. Ich denke, es gibt im Augenblick in Europa noch den Kampf zweier Linien: Die Franzosen stehen noch für etwas anderes, sollte aber die SPD fallen so würde ich mal sagen, gibt es eine Kettenreaktion. Und ich erinnere mich an eine Studie von Anderson Consulting, einer Unternehmensberatung, die so ein „Worst- und ein Bestcaseszenario“ aufgemacht hat. Das Worstcaseszenario ist, dass sich die französische Variante durchsetzt und das Bestcaseszenario, dass sich die US-amerikanische Variante durchsetzt. Diese Studie endet mit dem Satz: „..und der Kampf zwischen diesen beiden Modellen wird derzeit ausgetragen auf deutschem Boden.“ Und in diesem Sinne ist das, was sich da mit der SPD vollzieht, nicht ganz unbedeutend auch für andere europäische Länder.

Ein drittes Argument, weshalb mir diese Debatte ganz wichtig erscheint, ist, dass es ohne die Sozialdemokratie es keine Alternative zum Neoliberalismus gibt. Mit ihr natürlich in dieser Form auch nicht. Aber man kann diesen Entwicklungen nicht einfach so gegenüberstehen und sagen „na, ja. Wir haben es immer schon gewusst.“ Deswegen will ich nochmal, jetzt am Beispiel dieser Gerechtigkeitsdebatte, die ich erwähnt habe, ihnen ein paar von diesen Argumentationsfiguren vorführen.

Die Ideologie des 3.Weges am Beispiel des Gerechtigkeitsbegriffes

Mentale Kolonialisierung meint Einbürgerung neoliberalen Gedankengutes in sozialdemokratische Programmatik. Eine Eigenart des Neoliberalismus besteht ja darin, dass es sich dabei um Ideen handelt, die die Realitäten, die diese Ideen zu beschreiben vorgeben, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung erst schaffen. Das sieht ganz schlicht so aus, dass Politiker, Publizisten und solche medienpräsenten Intellektuellen wie Anthony Giddens und viele andere auch, Trends identifizieren, meist im Rückgriff auf jede Menge Statistiken. Danach werden diese Trends als interessefreie, gleichsam natürliche Phänomene beschrieben - dahin geht die Entwicklung – und dann werden die durch politische Entscheidungen zuvor identifizierten Trends zur Wirklichkeit gebracht. Nichts anderes ist letztlich der Neoliberalismus. Und in diesem Sinne ist es schon ganz wichtig, diese Auseinandersetzung mit solchen Begriffen und Konzepten jetzt nicht einfach als Ideologiekritik zu betrachten, was es auch ist. Aber es geht um mehr: Diese Konzepte, wenn sie denn als Beschreibung der Wirklichkeit akzeptiert werden, werden politikfähig. Und deswegen interessiert mich dieser Gerechtigkeitsdiskurs, denn die Sozialdemokratie hat nach Altkonservativen und Neu-Grünen nun auch die wachstumsförderlichen Eigenschaften von mehr sozialer Ungleichheit entdeckt. Darum geht es in diesem zeitgemäßen Gerechtigkeitsbegriff.

a) Pferdeäpfeltheorie statt Verteilungsgerechtigkeit

Sie beziehen sich da immer auf John Rawls, einen amerikanischen Vertragstheoretiker. Der hat eine Formulierung in seinen Gedanken drin, die wird immer als eine weniger liberale, eine weniger brutal marktliberale Formulierung ausgelegt. John Rawls hat eine Formulierung in seiner Gerechtigkeitstheorie, die besagt: „..soziale Ungleichheit sei hinzunehmen, wenn alle, also auch die weniger Privilegierten, etwas davon haben.“ Das heißt, es gibt soziale Ungleichheiten, die hinzunehmen sind, wenn sich zeigen lässt, dass alle Mitglieder der Gesellschaft eigentlich etwas davon haben. Dies ist die berühmte Pferdeäpfeltheorie:

Wenn man den Gaul füttert, dann kommen irgendwie am Ende diese Äpfel heraus. Dann kommen die Spatzen und picken sich etwas heraus, und insofern haben auch die Spatzen etwas davon, dass man den Gaul füttert. Man könnte natürlich auch direkt die Spatzen füttern, aber die Pferdeäpfeltheorie lautet eben anders. [2]

Ich habe das erwähnt, um klar zu machen, welcher der philosophische Bezug ist, der da immer wieder reklamiert wird. In den Formulierungen von Wolfgang Klemens, seines Zeichens Ministerpräsident in NRW, der gerade eine Wahl gewonnen hat - und diese Eröffnung des Grundwerteforums über Gerechtigkeit fand unmittelbar vor der Wahl statt - lautet das dann so: Soziale Ungleichheiten seien heutzutage weniger ein Problem denn ein, ich zitiere, „Katalysator für individuelle und gesellschaftliche Entwicklungen.“ Klassische Neoliberale formulieren das viel genauer. Die sagen:

Wer Wachstum will, muss soziale Ungleichheit akzeptieren. Und darum geht es letztlich. Dahinter steckt die Idee, dass - wie wir doch z.B. in den USA sehen könnten - mehr soziale Ungleichheit das Wachstum fördere. Und Wachstum wollen wir. Und wenn wir dann außerdem diese Konstellation realisieren können, wie in den USA, dann haben wir auch keine Verteilungskonflikte. Darauf komme ich gleich noch einmal zurück.

D.h. es wird unterstellt: Soziale Ungleichheiten sind wachstumsförderlich. Und das heißt nichts anderes, als dass die bislang schon eingetretene Verschiebung der Verteilungsrelationen weg vom Faktor Arbeit, von den Löhnen hin zu den Profiten und den Zinsen, dass die weiter forciert werden soll. So deutlich sagt das natürlich kein Sozialdemokrat, die reden immer von produktionsorientierten Ungleichheiten. Man muss sich halt immer vor Augen führen, was damit gemeint ist. Weil so versteht man es erstmal nicht und deswegen muss man sich das übersetzen. Das heißt einerseits Verschiebung der Verteilungsrelationen zugunsten von Gewinnen und Zinsen. Und die Annahme ist: Wenn ich diese Pferde nur richtig füttere, sprich ihnen mehr von dem Reichtum zugestehe, dann werden sie auch investieren, mehr Arbeitsplätze schaffen und dann wird es halt für alle auch mehr Beschäftigungschancen geben. Das ist die typische liberale Gedankenargumentation, die dahinter steckt.

Darin steckt natürlich auch das zweite Element – darauf komme ich auch noch einmal – Reduzierung der sozialen Sicherheitssysteme, nämlich genau auf diese „Lazarettwagenfunktion“, d.h. also dass sie gerufen werden sollen, wenn wirklich gar nichts mehr geht und der Exitus kurz bevorsteht. Dahinter steckt, das habe ich schon angedeutet, die Vision, dass so etwas wie ein neuer Wachstumszyklus – und da wird dann immer auf die USA verwiesen – geben könnte. Ich habe hier nicht die Zeit, über dieses Modell der „New Economy“, der neuen Ökonomie, die man da in den USA entdeckt zu haben glaubt aufgrund des lang anhaltenden Wirtschaftshochs in den USA, zu referieren. Wie realistisch eine solche lange Welle von Wachstum ist, kann ich hier nicht diskutieren. Ich hielte sie auch nicht für wünschenswert. Aus ökologischen Gründen glaube ich, dass wir nicht ernsthaft auf solch eine Welle von Wachstum, das heißt also eine 3-4prozentige jährliche Steigerung des ohnehin schon hohen Wachstums in den Industrieländern setzen sollten. Es bedeutet ganz schlicht, dass die Entwicklungsländer, die dieses Wachstum benötigen, es nicht haben können aufgrund der ökologischen Restriktionen. Man kann die Ressourcen nur einmal verbrauchen und wenn wir sie auf unserem Niveau – also mit 3-4prozentigen jährlichen Wachstum – verbrauchen wollen für die nächsten zehn Jahren, dann kann man sich also ausrechnen, was das im Sinne einer globalen Gerechtigkeit bedeuten würde. Aber ich will jetzt weder auf dieses ökonomische Argument – dass nämlich dieses Wachstum gar nicht realistisch ist aus ökonomischen Gründen - noch auf das ökologische Element hier kommen. Sondern ich will mich auf eben diese soziale Dimension konzentrieren. Und ihnen deswegen noch einmal vorstellen, was in dieser Gerechtigkeitsdebatte nun welch eine Rolle spielt. Sie sagen ja nicht, wir wollen keine gerechte Gesellschaft mehr. Das wäre ja zu einfach. Sondern sie wollen ja einen dritten Weg. Das heißt, sie wollen nach wie vor eine Partei der sozialen Gerechtigkeit sein. Aber die Argumentation lautet, es gebe vier Gerechtigkeitsziele. Wovon das vierte Gerechtigkeitsziel, nämlich die Verteilungsgerechtigkeit zu vernachlässigen sei.

b) Workfare plus Letzte Hilfe statt Wellfare

Ausdruck der Neudeutschen Gerechtigkeit ist Inklusion in den Arbeitsmarkt. Teilhaber am Arbeitsmarkt, und das um jeden Preis. Das heißt also auch zu Löhnen um jeden Preis. Das heißt also auch zu löhnen bei Löhnen, die wir bisher als nicht akzeptabel betrachteten, mit dem Argument es geht vor allem darum zu partizipieren. Man muss sich das einmal vor Augen halten, wie da Begriffe eine neue Bedeutung erhalten. Das ist Neoliberalismus. Man legt einfach Worten neue Bedeutung zu. Die Partizipation am Arbeitsmarkt ist so vorrangig, dass ich mich nicht darum zu scheren habe, ob ich davon eine Existenzsicherung oder irgendetwas anderes zu Wege kriege, Hauptsache Partizipation. Das läuft natürlich im Endeffekt auf die Etablierung von Niedriglohnsektoren und ähnlichem hinaus. Und das heißt, dass letztlich dann auch „Workfare“ wie in den USA, also Zwang zur Arbeit, anstelle von „Wellfare“, also Wohlfahrt, gemeint ist. Aber das wird selbstverständlich so nicht gesagt. Dass es so ist, wie ich behaupte, ergibt sich aus dem zweiten Gerechtigkeitsziel. Das zweite Gerechtigkeitsziel lautet: „Ja wir brauchen nach wie vor soziale Sicherung für die Schwachen (für die Lahmen, also den Lazarettwagen), aber es soll halt wirklich als letzte Auffangstation definiert werden. Und deswegen brauchen wir unbedingt zu dem bislang üblichen Begriff von „Rechten auf soziale Sicherheit“ einen viel stärkeren Pflichtenbegriff. Das heißt härtere Pflichten zur Arbeitsaufnahme müssen unbedingt etabliert werden, weil die Einmündung der Menschen in den Arbeitsmarkt ja durch diese all zu hohen sozialen Sicherungssysteme blockiert wird. Die soziale Sicherung ist daran schuld, dass die Menschen nicht in den Arbeitsmarkt kommen, weil es hindert sie letztlich daran oder es gibt diese Ausschließungsmechanismen. Deshalb muss ich unbedingt soziale Sicherung auf eben dieses Niveau herunterbringen, dass man dann als Lazarettwagen beschreiben kann.

c) Chancengleichheit

Und das dritte Gerechtigkeitsziel - da knüpfen sie auch an John Rawls an, in diesem Sinne ist es ziemlich konsistent – John Rawls hat geschrieben: „wir können nichts verändern an den gegebenen sozialen Ungleichheiten“ (und wir wollen daran nichts verändern). Aber es ist ja klar, die Menschen kommen mit einer unterschiedlichen natürlichen und sozialen Ausstattung an den Start – in diesem Wettbewerb – mit unterschiedlichen Begabungen und auch mit unterschiedlichem sozialen Kapital. Also wenn mein Vater Trinker ist, habe ich einfach schlechtere Startbedingungen, als wenn mein Vater Fabriksdirektor ist. Also in diesem Sinne spricht John Rawls davon, dass die Lotterie der Natur korrigiert werden solle, und dafür schon der Staat zuständig sein solle.

Also das dritte Gerechtigkeitsziel lautet: Chancengleichheit herzustellen sei nach wie vor die Aufgabe des Staates. Und diese Chancengleichheit sei definiert als Chancengleichheit im Bildungssystem. Das heißt: Ungleichheit ist soweit zu korrigieren, als es letztlich (und in dieser Funktion wird vor allem Bildung wahrgenommen) ökonomische und technologische Entwicklungen blockieren kann. Also mit einer schlecht ausgebildeten Bevölkerung kann ich auch nicht Wachstum und ähnliche Entwicklung betreiben. Einschluss in Arbeitsmarkt und Bildungssystem; das sind die beiden Elemente auf die sich diese Programmatik stützt. Aber das heißt mitnichten, dass wir Bildung so wie bisher als öffentliches Gut behandeln müssen. Das schließt sehr wohl eine Spaltung in Elite und Massenbildung ein. Klement argumentiert gleichzeitig für die Privatisierung von Schulen und Universitäten. Das Argument Chancengleichheit heißt nicht gleiche Chancen für alle, sondern wir brauchen eine Leistungselite und deshalb argumentieren inzwischen auch Sozialdemokraten für private Universitäten und ähnlichem.

Der zweite Revisionismus

Ich meine, das läuft auf so etwas wie einen zweiten Revisionismus hinaus. Also jedenfalls auf einen radikalen Bruch mit der Geschichte der Sozialdemokratie. Ich möchte nochmal ganz kurz daran erinnern: Die Aneignungsgerechtigkeit; also das Problem, dass es einige wenige gibt, die machtgestützt sich die Lebensäußerungen – insbesondere die Arbeitsergebnisse – anderer aneignen können, dieses Problem ist ja im ersten Revisionismus der Sozialdemokratie mehr oder weniger von der Tagesordnung gesetzt worden. Das heißt also, der Konflikt in der Produktion, um die Aneignung der Leistungen der Arbeitsergebnisse, davon hat sich ja die SPD verabschiedet, indem sie gesagt hat: wir kümmern uns nicht länger um diesen Konflikt der machtgestützte Aneignungsverhältnisse betrifft. Sondern wir kümmern uns um die Verteilung, die zustande gebracht werden kann. Und diese Verschiebung von Aneignung auf Verteilung, oder von Produktion auf Verteilung und Konsum, hat es ihr ermöglicht, sich in diesen letzten hundert Jahren – also seit dem Erfurter- Programm – auf die Frage zu konzentrieren: Verteilungsgerechtigkeit, das ist das was wir wollen. Aneignung lassen wir mal weg. Das ist vielleicht auch eine Frage von Marxisten oder Anarchisten, jedenfalls nicht mehr die der Sozialdemokratie.

Der Witz war ja, dass das eine Erfolgsstory war. Dies war eine Erfolgsstory, nicht ganz vorhersehbar, insofern als durch diesen Mechanismus ein Teil des gesellschaftlich erwirtschafteten Reichtums kommt dem Faktor Arbeit zugute, auf diese Art und Weise wurde ja geheimnisvollerweise die Nachfragefunktion der Löhne enorm nach oben gepusht. Es wurde der innere Markt vergrößert und auf diese Art und Weise hat die Arbeiterbewegung zu ihrer historischen Rolle gefunden. Nämlich wirtschaftliche und ökonomische Entwicklung zu stimulieren. Also das, was da in der Nachkriegsbewegung von Statten gegangen ist, das ist aufgrund dieser Verteilungsgerechtigkeit zustande gekommen, die allerdings nie mit großartigen Verteilungskonflikten einher ging, weil – wie wir ja wissen – das eine Phase von Wachstum gewesen ist. Aber, und das ist mir wichtig in Erinnerung zu rufen, es war ein Kreislauf von Wachstum und mehr sozialer Gerechtigkeit. Und dafür stand die SPD. Diese Verkopplung, Wachstum und soziale Gerechtigkeit, ging einher immer eine Stärkung der Rolle des Staates. Denn der Staat rückte in die Funktion, diese Verteilung zu organisieren und ganz plötzlich war er auch derjenige, der die Verteilung politisiert hatte. Und das war sehr vorteilhaft für Arbeitgeber, weil der Konflikt auf der Ebene der Betriebe freigehalten wurde von diesen Interessensauseinandersetzungen von Arbeit und Kapital. Es hat sich alles auf die Ebene der Verteilung und damit mehr oder weniger auf die Ebene des Kampfes um die Staatsmacht verlagert. Das war sehr förderlich für die Industrieländer Zentralmitteleuropas.

Nun ist der Punkt, dass mit dieser zentralen Idee der Verteilungsgerechtigkeit in diesem neuen Verständnis von Gerechtigkeit gebrochen wird, und zwar in doppelter Hinsicht. Verteilungsgerechtigkeit hat immer zwei Elemente gehabt: das eine war Bedarfs- oder Bedürfnisgerechtigkeit und das andere Leistungsgerechtigkeit.

Das Element Bedarfs- und Bedürfnisgerechtigkeit kam eher aus der sozialistischen Tradition, also nach dem Motto „Jedem nach seinen Bedürfnissen“. Davon war zwar nicht viel übrig, aber jedenfalls waren elementare Bedürfnisse zu befriedigen. Also dieses Element von Verteilung von Bedarfs- oder Bedürfnisgerechtigkeit war immer ein Teil von Verteilungsgerechtigkeit.

Und das zweite Element kam aus der liberalen Tradition, wurde aber von der Arbeiterbewegung auch immer ganz hoch gehalten: „Jedem nach seinen Leistungen“, also anteilig, an dem was ich zur gesellschaftlichen Wertschöpfung beigetragen habe, soll ich auch irgendwie entgolten werden.

Meine These ist nun, dass im Hinblick auf beide Elemente im Augenblick quasi tabula rasa gemacht wird. Bedarfsgerechtigkeit wird faktisch suspendiert und zwar durch den Trick, dass man Gleichheit als etwas des Teufels – als eine vollkommen altmodische Angelegenheit – verteufelt und sagt: „Gleichheit will doch gar keiner mehr. Inklusion in den Arbeitsmarkt, das ist es doch, worum es geht.“ Gleichheit wird jetzt nicht mehr als ein Wert an sich definiert oder etwas, das über das Bürgersein jedem eigentlich zustünde (mit Ausnahme von Rechtsgleichheit). Es geht nicht mehr um die Gleichheit von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen. Sondern Gleichheit wird gekoppelt an soziale Nützlichkeit an individuelle Produktivität. Und das ist eine radikal veränderte Vorstellung, weil der demokratische Diskurs ist einer der Rechte - Pflichten haben da überhaupt nichts zu suchen. Im Markt da gibt es nur Austausch von Äquivalenten, nicht?! (geben und nehmen) Aber das ist nicht die Sprache der Demokratie. Die Sprache der Demokratie ist eine der Rechte und in diesem Sinne ist diese Veränderung, nämlich zu sagen: „Du kriegst nur etwas, wenn du dafür für die Gesellschaft etwas geleistet hast“, eine radikale Wende. Ich denke, das fällt oft bei einigen auf fruchtbaren Boden. Das heißt ganz schlicht, dass die sozial Schwachen (in Deutschland sind es nach den Studien von Michael Fäste ungefähr 12%) signalisiert bekommen: „Also von uns könnt ihr zukünftig nichts erwarten.“

Das zweite Element ist die Leistungsgerechtigkeit. Meine These ist, dass obwohl permanent die Leistungsgerechtigkeit als das dargestellt wird, das übrig bleibt von dem Gerechtigkeitsbegriff, es gleichzeitig etwas ist, das weder Sozialdemokraten noch sonst jemand irgendwie garantieren kann. Denn unter den Bedingungen globaler Märkte kommt genau das, worüber man früher Leistungsgerechtigkeit ermessen konnte, vollkommen aus dem Gleichgewicht:

Normen, die auf der Ebene eines Betriebes, einer Branche, einer Gesellschaft identifiziert werden konnten, Tarifnormen, das Normalarbeitsverhältnis und all diese Dinge, also quasi Festschreibungen vom gesellschaftlichen Durchschnitt und von dem aus man dann ein mehr und ein weniger daran ermessen konnte. Daran kann man dann ermessen, was quasi gerecht wäre – im Sinne von leistungsgerecht. Das kommt unter den Bedingungen von globalen Märkten vollkommen aus dem Gleichgewicht. Weil auf globalen Märkten gibt es nur Angebot und Nachfrage und nicht diesen Durchschnitt, der an gesellschaftliche Normensetzung gekoppelt ist. Mit dem Effekt, so drücken es amerikanische Ökonomen aus, von „the winner takes all“- Märkte – Märkte wo die Gewinner alles kriegen und die Verlierer leer ausgehen. Das sind Wettläufe – z.B. im Sport und im Kunstgeschäft gibt es solche Märkte, wo nicht ein paar Leute mehr und die anderen weniger haben, sondern wo einige wenige ganz viel und die anderen ganz wenig haben.

Das heißt, dass eine Überbewertung von Leistungen und eine Unterbewertung von Leistungen erfolgt. Und daraus resultiert, dass Verteilungskonflikte immer stärker auf einer horizontalen Ebene entstehen: Also nicht mehr auf der vertikalen zwischen Arbeit und Kapital, sondern - Kapital ist ja mobil, wie soll ich denn da irgendwie einen Verteilungskonflikt ausfechten – zwischen Rentnern und Erwerbstätigen, zwischen dem Beschäftigten im dritten Sektor und denen im öffentlichen Dienst, zwischen Arbeitslosen und Beschäftigten. Horizontal bedeutet, dass diejenigen, die nicht mobil sind, mehr oder weniger den Verteilungskonflikt unter sich ausdrücken müssen. Viele andere, nämlich gerade die mobilen Produktionsfaktoren, die können sich sehr wohl als Steuerbürger, aber auch in irgendeiner anderen Weise sonstwie absentieren und das wird durch ganz bestimmte politische Maßnahmen – einer ganz bestimmten Art der Steuerpolitik – noch gefördert.

Meine These ist, dass, weil Leistungsgerechtigkeit gar nicht mehr zu sichern ist im nationalstaatlichen Rahmen, letztlich auch die – für Deutschland sind es 64 Prozent nach den Studien von Michael Fäste – faktische sozialstrukturierte Mitte der Gesellschaft – das sind leistungsorientierte, gut qualifizierte Arbeitnehmer – von dieser Art von Sozialdemokratie nicht mehr bedient werden können. Weil man ihnen nämlich sagen muss: „Ihr könnt, ihr sollt euch zwar anstrengen, aber eines bringen eure Anstrengungen ganz sicher nicht: SICHERHEIT. Sicherheit in der Lebensplanung, Sicherheit im Einkommen, Sicherheit im Hinblick, dass ihr eure Qualifikationen auch morgen noch verwerten könnt“. Und diese Androhung „Ihr müsst einerseits immer flexibler, mobiler, anpassungsfähiger werden, aber niemand kann euch versprechen, dass sich am Ende diese Art von Anstrengung von Leistung lohnt!“, das ist in der Tat ein sozialer Sprengstoff, der gewaltig ist. Denn das bedeutet nämlich, wenn sich jetzt junge Menschen, also wie diese 18- bis 24jährigen, voll darauf einlassen, dem Arbeitsmarkt im Sinne dieser „Dritte Weg- Ideologie“ alles zu geben, was sie zu geben in der Lage sind – Mobilität, hinten anstellen von familiären Geschichten und so weiter - aber man ihnen dafür nicht Sicherheit in Aussicht stellt, finden sie das ja noch gut, wenn sie jung sind. Aber sie haben gleichzeitig, weil sie völlig apolitisch geworden sind, sie haben nur eine einzige private Version, das ist: irgendwann einmal Familie und Beruf miteinander vereinbaren zu können. Und genau das ist es, was NICHT funktionieren kann unter den Bedingungen. Das heißt, es gibt keine Sicherung der Lebensführung. Wie darauf reagiert wird, das vermag ich mir nicht auszumalen. Wenn diese Jugendlichen, die ich jetzt als Studenten habe und die als Kinder jetzt groß werden, feststellen, dass diese Anstrengungen ihnen das einzige, was sie an Vision von Zukunft haben, nämlich dass sie wenigstens ihr privates Glück mit ihrer Arbeit vereinbaren können, dass das realisierbar ist, dann fürchte ich in der Tat eine soziale Verwahrlosung, für die mir im Augenblick die Fantasien fehlen das auszumalen.

Anmerkungen

[1] Birgit Mahnkopf ist Professorin für Eropäische Gesellschaftspolitik an der Fachhochschule für Wirtschaft in Berlin und unter anderem auch MItherausgeberin der Zeitschrift PROKLA. Der Vortrag von Birgit Mahnkopf fand im Rahmen einer Sommerakademie der Grünen Bildungswerkstatt Tirol unter dem Titel "Die Gewalt des Zusammenhanges" am 9. September 2000 statt. Transkribiert hat den Vortrag Marlies Schütz. Als Buch sind die Inhalte der Sommerakademie nachzulesen in Elmar ALTVATER, Johan GALTUNG, u.a.; Neoliberalismus - Militarismus - Rechtsextremismus: Die Gewalt des Zusammenhangs. (Wien 2001, Promedia. ISBN 3-85371-168-5). zurück

[2] So muss man wohl auch Gusenbauers gefährliche Drohung mit der von ihm propagierten "solidarischen Hochleistungsgesellschaft" verstehen! [Walther Schütz] zurück

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Mimenda, 2006-09-23, Nr. 2947

da kann man mal sehen, wie "visionär" dieser vortrag war. ist alles eingetreten, im blick auf die arbeit: hartz4, billiglohn namens 1-euro-job, ich-ag. die menschen stehen unter arbeitszwang, müssen demnach auch jede "zumutbare" arbeit annehmen, sonst gibts auch kein hartz4 mehr usw.
und zu all dem gäbe es keine alternative, neoliberalismus sei unumkehrbar. und wie geschickt das eingefädelt wird, davon lässt sich auch lesen: "Eine Eigenart des Neoliberalismus besteht ja darin, dass es sich dabei um Ideen handelt, die die Realitäten, die diese Ideen zu beschreiben vorgeben, im Sinne einer sich selbst
erfüllenden Prophezeiung erst schaffen."

pferdeäpfel-theorie, das wäre zum lachen, wenn es nicht so traurig wäre. ein amischer aus ohio erzählte mir mal, mit einer mischung aus äußerster verblüffung, entrüstung und ekel, es gäbe da leute in holmes county (in dem die amischen sehr verbreitet sind), die verkauften pferdeäfel in folie gewickelt und mit schleifchen dran als "holmes county road apples", und die touristen kauften die auch noch (wie blöd muss man sein, hörte ich ihn
denken). und dabei sei das doch nichts als scheiße. die menschen sollen sich also vom abfall dessen ernähren, was die großkopferten von ihrem tisch fallen lassen, vulgo: von deren scheiße. ist das bloß abgrundtief zynisch oder gibt es dafür noch ein wort, das es besser trifft?

"Man legt einfach Worten neue Bedeutung zu." und man tut gleichzeitig so, als sei das noch dasselbe wie einst. der staat solle die menschen zur selbsthilfe aktivieren! sie sagen es nicht, aber mir will scheinen, als ob das subsidiaritätsprinzip nell-breunings (von dem meiner erinnerung nach in den 70er und den frühen 80ern soviel die rede war)
hier in verkleidung wiederaufersteht. die fortsetzung der sozialen marktwirtschaft (von
der zwar sich kaum jemand mehr zu sprechen traut) mit anderen, nämlich modernen mitteln,
die das soziale auf ein minimum reduziert. die menschen werden mit lazarettwagen verschaukelt, und viele merken dies, resignieren und werden damit vollends zu dem, was ihnen der neoliberalismus zugedacht hat: human resources, alias menschenmaterial.

chancengleichheit und elitenbildung. ja, das hat sich auch schwer geändert seit 1990. damals als ich am ersten seminar einer politischen stiftung teilnahm, in die ich kurz zuvor wider erwarten als stipendiat aufgenommen worden war, damals sagte einer am mittagstisch "wir gehören jetzt zur elite", worauf ein mindestens 2 stunden dauernder
emotionaler diskurs darüber anhub, dessen tenor war, dass elite eine dynamische kategorie
und ihr zugehören keine frage der selektion sei. heute gibt just dieselbe stiftung ein buch zu den eliten heraus, in dem es - wen wunderts - grosso modo darum geht, dass man kein problem mit diesen haben sollte.

chancengleichheit? machen wir uns nichts vor, die selbsternannten eliten (also alle, die oben sitzen und viel geld machen), die "emporkömmlinge", sie tun in der regel so, als wären sie aus eigener kraft "nach oben" gekommen und wissen doch genau, dass die eigene leistung gerade nicht der zureichende grund dafür war. und dass sie nun mal oben sind, ist ihnen noch nicht genug, wovon die total verblödete debatte vor einigen jahren zeugte, die allen ernstes zum thema hatte, dass die "leistungsträger" der deutschen gesellschaft nicht genug verdienten (der normale arbeitnehmer soll also auch noch mitleid haben mit den armen menschen, die sich ihren allerwertesten für nichts als für ihr eigenes "wohl" aufreißen). ein wort, das sicher nicht bedeuten sollte, dass diese die leistung anderer tragen und somit von ihr profitieren, sondern dass sie diese selbst in einem maße erbringen wie andere eben nicht. und die kassiererin bei aldi/hofer und der postangestellte, der in nachtschichten die pakete stapelt uswusf. ja, leisten die alle nichts? doch, sie leisten einen beitrag zu einem funktionierenden "gemeinwesen", während jene parvenüs ihre usurpierten schäfchen
ins trockene bringen. deren leistung, obwohl sie keinen beitrag zur "gesellschaft" darstellt, wird über, die leistung des rests unterbewertet, so ist es.

parallel hierzu hat sich ein anti-intellektualismus etabliert, der geradezu darauf erpicht ist, alles, was nicht direkt messbar oder untechnisch ist, als tätigkeit abzuwerten. einem software-trainer
zahlt man gerne 1500 euro pro person und tag, dem lehrbeauftragten einer universität, wenns hoch kommt, 50 euro für anderthalb stunden (im jahre des vortrags, auf den ich reagiere, waren es umgerechnet 32 euro an einer norddeutschen uni, 27 an einer ostdeutschen).

bildung, die der neoliberalismus meint, misst sich allein an der dem menschen oktroyirten flexibilität. um diese zu erwerben, braucht man aber keine chancengleichheit. es sollen ja auch gar nicht alle dorthin kommen. es gibt ja schließlich noch einen größeren bedarf an spatzen für die pferdeäpfel.

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