2014-06-17
Rattenfänger von Wien
EXPOSÉ
Der Gründer der Ersten Wiener Schädlings-Centrale - Johann Baptist Schabenberg – bezeichnet sich als illegitimen Nachkommen Herzog Friedrichs des Streitbaren. Die Babenberger seien nicht wirklich ausgestorben, da der jeweils Erstgeborene des Geschlechts von den auf Wien eifersüchtigen Klosterneuburger Mönchen erzogen und auf die Machtübernahme in Österreich vorbereitet werde. Freilich muss „der Baptist“ sein Dasein als Rattenfänger fristen und heißt wegen eines boshaften Beamten seit der Seelenbeschreibung (Volkszählung) von 1857 Schabenberg. Das Rattenfanggeschäft läuft aber gut, ist er doch auch Rattenzüchter und Verbreiter von arvicola terrestris, mus musculus, rattus rattus und anderen Vertretern der Species. Als sein Sohn Lebrecht (Leopold Albrecht) in der Schule als „Ratzenfresser“ gehänselt wird, beginnt der Baptist, ihm zum Trost die ruhmvolle Geschichte der Babenberger und des von ihnen begründeten Vaterlandes nahezubringen:
Leopolds des Glorreichen Akkoner Streithemd sei mitnichten dank Muselmanen-, sondern dank Rattenblut rot-weiß-rot gefärbt gewesen; die Ratten hätten auch bei den Türkenkriegen geholfen; die Schabenberger seien mit dem Lieben Augustin verwandt und darum gegen das Pestgift des Rattenflohs immun; Joseph Haydn sei die Idee zu seinem berühmten Paukenschlag-Andante gekommen, als er mit einem Kerzenleuchter auf Ratten eindrosch, die im Schloss Esterházy sein Pianoforte umhuschten.
Lebrecht erfindet das Wundermittel Sineratto Frimm, das Ratten und andere Schädlinge in einen todesähnlichen Tiefschlaf versetzt, sie nach einer variablen Vita reducta jedoch wieder zum Leben erweckt. Schädling oder Nützling, das is eine Frage der Perspektive, hat schon Johann Baptist erklärt. Lebrecht stirbt als alter Mann in einem privaten Irrenhaus, als er von einem Medikamentenwagen herunter den anderen Geisteskranken die Restauration der Babenberger verkündet. Sein Sohn Ladarich (Leopold Adalbert Heinrich) heiratet ein jüdisches Herzel, das am Christkindlmarkt aus Holz geschnitzte Erlöserbabys feilbietet und unter dem Namen des Gatten einen Kurzgeschichtenwettbewerb der Armee gewinnt. Ladarich hilft als Kriegsgefangener bei der Übersetzung von Tiroler Orts- und Bergnamen ins Italienische und verdirbt den Charakter seines Sohnes Poldo Poldo durch Geschichten über Heldentaten, die nie begangen worden sind. Nach der Trennung von seiner Frau endet er am Tag des Anschlusses gebrochenen Herzens in einer Rattenfängerapotheose im Donaukanal. Poldo Poldo „entjudet“ sich, wird nach der Mitentwicklung eines Kriegslust steigernden Präparats SS-Standartenführer, als er das Mittel in den letzten Kriegstagen jedoch an jüdischen Häftlingen erproben will, verliert er die Gunst seiner Nazigönner, die glauben, er wolle eine jüdische Revolte anzetteln. Er wird für ganz kurze Zeit inhaftiert und erlangt dadurch Widerstandskämpferstatus, was seine Existenz in der Zweiten Republik erleichtert.
Wir erfahren Merkwürdigstes, etwa, dass der Tafelspitz ursprünglich aus Hundefleisch bereitet wurde, Kaiser Franz Joseph seine Sisi mit Sineratto Frimm behandeln ließ, um von ihr stundenweise Ruhe zu haben oder dass Napoleon auf Grund eines Rattenbisses zu seiner charakteristischen Armhaltung kam. Selbst Goethes Rattenfängerlied, Franz von Assisis Rattenpsalm Beato sei, fratello ratto und eine lateinische Version des Rattenfängers von Hameln kommen zum Einsatz. Der Autor spielt mit Österreichklischees aller Art, führt wie ein literarischer Großenkel Herzmanovsky-Orlandos durch eine skurrile österreichische Geschichte und sorgt dafür, dass einem gelegentlich auch einmal das Lachen vergeht.
Mit Poldo Poldo starb im Jahr 1955 das Geschlecht der Schabenberger aus, die Rattenschwärme seines Labor-Labyrinths verbreiteten sich über das Land. Diese Ratten lernten dazu. Sie trieben ihre Meisterschaft im Auffinden von Schlupflöchern zur höchsten Perfektion und entwickelten eine bis dahin unbekannte Versteckkultur. Bald saßen sie allerorten, in Regierungsgebäuden, Kulturtempeln, Kathedralen und Hospitälern, in Polizeikasernen und an Universitäten, aber niemand nahm sie wahr. Fragte man einen Regierungsfunktionär, wie es mit der Rattenplage stehe, so schloss er das Vorhandensein jener Schädlinge kategorisch aus und verwies auf die Erfolge der Hygiene- und Assanierungspolitik in Österreich. „Es gibt keine Ratten“, würde er sagen, „und es hat auch nie welche gegeben.“