2004-06-09
Spurensicherung
Loibl Gedenkveranstaltung 5. Juni 2004
Auf der Nordseite des Loibltunnels wurden nur zwei Steinblöcke hinübergerettet in die Gegenwart, vom Bau des Tunnels damals, 1943 bis 1945. Steine, von Gefangenenhänden aus dem KZ Mauthausen behauen. Mehr ist nicht übrig geblieben nach der Renovierung des Tunnels im Vorjahr. Die Steine hatte man über Nacht irgendwohin verbracht oder beim ehemaligen Appellplatz aufgeschüttet.
Gedenken 2003: Junge Leute lassen weiße Luftballons in den Morgenhimmel steigen. An jedem Ballon ist eine Botschaft angebracht. Ich stelle mir vor, wie die Botschaften in die unsichtbare dunkle Wolke über dem Loibl, in das lähmende Schweigen eindringen, hoffnungsvolle Nachrichten von den Lebenden an die Toten überbringen.
Ich stelle mir vor, wie die Steinblöcke unsichtbare Male tragen, unheimliche Zeichen, dass sie so schnell fortgeschafft werden mussten. Zeichen von Berührungen verzweifelter, geschundener Hände. Man sagt, Räume behielten die Atmosphäre der Menschen, die sie bewohnten. Vielleicht auch Tunnels, vielleicht auch Steine.
Ein verschämtes Schild auf der Nordseite, in einer Kurve vor dem Tunnel, mit dem Hinweis auf das ehemalige Nordlager. Nicht ratsam, in diese Richtung zu gehen, Gestrüpp und holpriges Gelände.
Ich fahre auf die Südseite des Loibltunnels. Staune, als ich auf einer Wiese rechts neben der Straße hunderte von Leuten sehe, sitzend, stehend. Die Wiese ist terrassenförmig angelegt, hier war das Konzentrationslager Süd gewesen. Es sind noch einige Grundmauern zu sehen. Eine Partisanengruppe steht Spalier. Die Musik hallt in den Felsen der Karawanken wieder. In den Zeiten, als hier das Konzentrationslager war, Widerhall der Schreie der Gefangenen, Hundegebell sowie Befehle der Aufseher. Vor dem Hintergrund der wunderschönen Berglandschaft. Die Bergeswände, wenn sie erzählen könnten. Teilnahmslos die Geröllhalden hoch oben.
In der Tiefe der Zeit spüre ich eine stille Hoffnungslosigkeit und Resignation von Gestalten in gestreifem Blau und Grau. Spüre ihr Gefühl des Nicht-aus-könnens, des Ausgeliefertseins, chancenlos. Und ein stilles Einverständnis mit ihrer Lage, in der nur mehr versucht wurde, das eigene bloße Leben zu retten, als wäre es schicksalhaft, was hier geschah und wäre nichts Anderes möglich gewesen, als hätten sie kein Recht auf ein anderes Leben gehabt.
Ich gehe einer Terrassenstufe entlang zu einem Gebäude, dessen Grundmauern erhalten sind. Ich betrete einen nach oben hin offenen Raum, an den Seitenwänden sind Gedenktafeln angebracht an Konzentrationslager des Zweiten Weltkriegs. Ich stelle mich neben die Tafel mit der Aufschrift “Dachau”. Hier habe ich zu stehen, spüre ich. Hier ist mein Platz. In Dachau wurde am 27. April 1945, in den letzten Tagen vor der Befreiung des Lagers, mein Großvater noch schnell weggeräumt. Ermordet. Er war ein slowenischstämmiger Kärntner Partisan gewesen. Er war jünger gewesen als ich es heute bin und er hatte fünf kleine Kinder zu Hause zurückgelassen, eines davon war meine Mutter.
Seit ich auf die Suche gehe, den Spuren der Opfer folge, atme ich leichter, fließt mein Blut ungehinderter. Denn ich bin mit diesen Menschen verbunden, mehr als mir lieb ist. Ich muss zurückgehen, immer wieder flussaufwärts, muss mich die Geschichte rückwärts entlangtasten, entlanglesen, entlangschreiben. Auch wenn mich das Zurückgehen manchmal aus der Fassung bringt. Die Vergangenheit ist mir eingeprägt. Wenn ich mich mit den Opfern verbinde, wie hier, an dieser Gedenkstätte, atme ich erleichtert auf, denn in mir, wie in vielen von uns, war eine innere Lähmung aufgrund des jahrelangen Schweigens. Wie gut, wenn das Schweigen gebrochen wird, wie hier am Loibl.