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Ludwig Roman Fleischer

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2004-03-02

Die Dorfstudie

Als Ganzheitsmediziner sage ich Ihnen: dieses Dorf ist krank, so krank wie die Welt. Kein Wunder. Wie sollte es in einer kranken Welt auch nur ein einziges gesundes Dorf geben? Die Leute ahnen es ja, aber bewusst ist es ihnen nicht. Die Menschheit begreift sich heutzutage hauptsächlich aus ihren Krankheiten und Defekten. Schauen Sie in die Zeitungen: Krankheitsbilder, Krankengeschichten, Diät- Defekt- und Demenzberatung! Herzkranke Präsidenten und geriatrische Minister regieren fettsüchtige, depressiv-schizoide Parkinson- und Alzheimeraspiranten; stressgebeutelte Manager dirigieren krisengeschüttelte Misswirtschaften; alkoholkranke Künstler werken in der Kunst und größenwahnsinnige Forscher in der Wissenschaft. Selbst wir Ärzte sind in erster Linie Patienten!

Unser Dorf unterscheidet sich nicht von der Welt. Hören Sie mir mit der guten Luft und der schönen Landschaft und dem sauberen Wasser auf! Das sind doch Schimären! Die gute Luft ist mit Stickoxyden verpestet, weil die Dorfbewohner den Wald verheizen; die schöne Landschaft verschwindet unter Schnellstraßen, Sesselbahnen, Starkstromleitungen, Mülldeponien und Fertigteilhäusern, die man mit Fug und Recht als Krebserreger-Container bezeichnen könnte; das Wasser unseres Sees ist von Wasch- und Desinfektionsmitteln, von Hautcremen, Schmiermitteln, Kunstdüngerrückständen und Schwermetallen versaut. Die Gemeinde hat jetzt so ein Sauerstoff verspuckendes Floß ins Wasser setzen lassen, ein Gebilde aus Stahltonnen, das im See umherfährt, damit die Rotalgen den Windsurfern, Motorbootfahrern und Schwimmern nicht über die Migräneköpfe wachsen. Seit drei Jahren hat man keine einzige Reinanke mehr aus dem See gezogen, und wenn es noch Reinanken gäbe, müsste man sie Dreckiganken nennen. Sie leiden an einem hochgradigen Idyllesyndrom, einem pathologischen Paradieswahn, wenn Sie in diesem Dorf gute Luft, sauberes Wasser und eine schöne Landschaft zu bemerken meinen. Dieses Dorf - das ich übrigens nirgendwo in meiner Studie als unser Dorf bezeichnet habe - ist ein Mikrokosmos, dessen indigene Kreaturen sich nur über ihre Krankheiten, Befallenheiten, Verseucht- und Verrottetheiten begreifen lassen.

Die Menschheit ahnt es ja. Hören Sie sich die moderne Musik an! Ein verzweifeltes Gejammer, das Desperationsgeschrei der Verdammten in einem Garten der Unlüste! Der typische zeitgenössische Komponist ist virtuos in der musikalischen Gestaltung des Kranken, des Katastrophalen: routiniert komponiert er die Geräusche eines im Todeskampf delirierenden Krebspatienten, das Krepieren eines Apoplektikers, den Supergau, einen Brückensturz, einen Dammbruch, das Gezeter in einem Irrenhaus, das Wehklagen gefolterter Dissidenten. Schönheit, Harmonie, Gesundheit: das interessiert ihn nicht, das kann er nicht darstellen, da versagt er völlig, und probierte er es, es wäre unerträglicher Kitsch. Würde man unser Dorf als Musikstück setzen, es käme eine gigantische Kakophonie des Unterganges heraus. Als Theaterstück wäre unser Dorf eine surrealistische Version der Letzten Tage der Menschheit, als Gemälde ein Geklecker aus Blut, Eiter und Dreck, ohne Perspektive, wie von einem Psychotiker gepinselt.

Lassen wir das. Ich wollte Ihnen über meine Dorfstudie berichten, wegen der man mich zu Ihnen gebracht hat. Für diese Dorfstudie haben sich Universitäten, Ministerien und Werbeagenturen interessiert, konservative, progressive und resignative Magazine, Fernseh- und Radiostationen, Kabarettisten und Greenpeace. Weil meine Studie von brennender Aktualität und Allgemeingültigkeit ist. Weil dieses Dorf ein Modell der Welt, eine Version - oder eher Perversion der Weltidee, die ja irgendwer irgendwann irgendwarum gehabt haben wird: der Weltgeist vermutlich, ein gelangweilter deus ex machina, während eines Schubes schizoider Selbstentäußerungsmanie. Freilich will ich mich nicht auf religiöse Spekulationen einlassen, obwohl die Religion als Krankheitsbild par excellence gelten kann. In diesem Zusammenhang möchte ich anmerken, dass unser Dorf sein Entstehen religiösen Wahnideen verdankt, die im Zuge der sogenannten Gegenreformation virulent wurden. Durchgedrehte Jungfernzeugungs- und Erlöserkannibalismus-Fanatiker machten Jagd auf auf bibelsüchtige und prädestinationsfixierte Puritaner, trieben sie in die unwirtlichen Seitentäler hier heroben, wo sie seither ungestört ihrem Selbstgerechtigkeitswahn frönen.

Unser Bürgermeister zum Beispiel: ein typischer Abkömmling dieser Vertriebenen, ein Evangeliumszelot, der die Frohbotschaft seines angeblichen Herrn zum faschistoiden Selbstgefälligkeitskult verhumbugt. Verfolgt städtische Häuselbauer, Slowenen, Juden, Rockmusiker, Grün-Alternative und Flachländer mit alttestamentarischem Hass. Er steht der Blasmusik, der Wassergenossenschaft, der Feuerwehr und dem Kameradschaftsbund vor und führt sich überhaupt wie ein Napoleon auf. Und wissen Sie warum? Weil er erstens an Mikrophthalmie (einer krankhaften Verkleinerung der Sehorgane), an genitaler Mikromelie und - wie ich vermute - auch an Mikrogyrie (einer pathologischen Verkleinerung der Gehirnwindungen) leidet. Sie mögen die Tatsache, dass ich den Bürgermeister in meiner Studie als prominenten Fall darstelle, als Indiskretion werten, als Verstoß gegen die ärztliche Schweigepflicht, doch habe ich den Bürgermeister nirgendwo als solchen bezeichnet und unser Dorf an keiner Stelle als unser Dorf ausgewiesen. Das Dorf W am See nenne ich es durchgehend, und ich bitte Sie: Dörfer W am See gibt es doch Dutzende! Das Dorf W am See steht für alle Dörfer der Welt; das Dorf meiner Dorfstudie ist nicht das Dorf W am See an sich, sondern eine Reflexionsform desselben, ein Modelldorf, über das ausschließlich ich gebiete.

Der Bürgermeister will mich zum Schweigen bringen, weil er die Wahrheit nicht erträgt. Er weiß ganz genau, dass meine Diagnosen zutreffend sind. Der spielt sich zum Vater des ganzen Dorfes auf, weil er kinderlos ist und ein armer Kranker, ein Kompensationsneurotiker, der sich als Tyrann gefällt, dabei endet sein Horizont beim eigenen Misthaufen. Von seiner ersten Frau - einer von Cellulitis, Spondylosis und prämenstruellen Blutungen geplagten Manikerin - hat er sich wegen der Kinderlosigkeit scheiden lassen. Jetzt steht er unter der Kuratel einer maskengesichtigen, an einer aberrierenden und unindiziert laktierenden Mamma leidenden, schizophrenen Jägerstochter, die noch dazu streng katholisch ist und zwischen Frigidität und Nymphomanie hin- und hergerissen wird. Ich habe diesen Krankheitskomplex als Maria-Magdalenensyndrom bezeichnet: die Gemütslage, die entsteht, wenn sich eine Frau abwechselnd als jungfräuliche Muttergottes und als abgebrühte Hure fühlt. In Marianischen Wahnphasen laktiert die Bürgermeisterin beim Agnus Dei und glaubt sich trotz ihrer achtundvierzig Lebensjahre mit dem Erlöserembryo schwanger. Während ihrer Magdalenenschübe schläft sie mit jedem, der sich dazu hergibt, vom gastritischen Tubabläser der Trachtenkapelle bis zum schwachsinnigen Knecht des Fuchsbauern. Einmal hat sie sich von einem Düsseldorfer Urlauber Filzläuse geholt und ihrerseits das halbe Dorf damit angesteckt.

Der protestantische Pfarrer leidet trotz einer fetten Schäfchenschar an Magersucht. Oft muss er wochenlang künstlich ernährt werden, weil er nichts hinunter- respektive alles gleich wieder hinaufbringt. Dass er immer wieder Askese predigt, zeigt, dass er seine Krankheit religiös verinnerlicht hat. Der katholische Sprengelhirte, der kaum drei Dutzend Schäfchen hat und noch vier andere Schmalbrustgemeinden betreuen muss, ist adipös, hypertonisch und dem Suff verfallen. Wenn er besoffen ist, wird er liebesdurstig. Er hat zwei Söhne: den Gemeindesekretär und den Dorfidioten der Nachbargemeinde. Die eine Mutter war die mittlerweile an einem Lungenkarzinom zugrundegegangene Trafikantin des Nachbardorfs, den anderen Buben hat ihm die nordrhein-westfälische Masseuse des Kurhotels Seeruhe geboren, die einst als Touristin den Werbungen des damaligen Leiters unserer Schischule erlag, ehe dieser an Lebercirrhose starb. Sie blieb im Dorf, massierte und angelte sich den katholischen Pfarrer. Übrigens: beidemale war es eine Protestantin, die er schwängerte. Vielleicht wollte er damit seine Vorstellungen von christlicher Ökumene verwirklichen. In letzter Zeit hatte er Pech in der Liebe, bekam Diabetes und vom Saufen einen Nesselausschlag. Seit er krank ist, ist er ein besserer Priester, behaupten die Katholiken. Ich glaube ihnen. Wie gesagt: die Menschheit lässt sich nur anhand ihrer Krankheiten und Defekte begreifen. Sollte der Weltgeist, der die Welt und unser Dorf erfunden hat, einen Welt- und Dorfplan gehabt haben, sollte ihm also all das nicht bloß passiert sein, dann ist - gemäß dem Schöpfungsplan - die Krankheit offenbar das wesentliche Element seiner Schöpfung. Das aus den Krankheiten resultierende Sterben dient der Erhaltung des Lebens der noch nicht von ihren individualtypischen Krankheiten hingerafften Todesaspiranten. Das und ähnliches habe ich in meiner Studie niedergelegt und mir damit die Verfolgung durch Bürgermeister, Gemeinderat, Ärztekammer, Landesregierung, protestantische und katholische Kirche eingehandelt.

Unser Forstmeister leidet an Rückgratverkrümmung, der Seewirt an Gefäßstörungen, der Leiter der Sportschule an Inkontinenz, unser Installateur an Wassersucht, unser Elektriker an Vorhofflimmern, die Chefin des Supermarktes an Milchallergie, der Fremdenverkehrsobmann an Neurodermitis, die Postmeisterin an Amnesie, der Kapellmeister der Trachtenmusik ist nach einer schweren otitis media schwerhörig, der Tischlermeister hat Polyarthritis, die Besitzerin der Fischzucht Psoriasis, der Obmann der Bauerngewerkschaft eine Heuallergie. Selbst der Dorfjugend stehen schon die Todesursachen ins Gesicht geschrieben. Dreißig Prozent unserer Schulkinder sind übergewichtig, die Hälfte hat Haltungsschäden, jedes fünfte Kind laboriert an Verdauungsstörungen, einundzwanzig Prozent sind kurz-, siebzehn Prozent weitsichtig, acht Prozent haben Astigmatismus. Unser Dorf hatte bei der letzten Volkszählung tausendsechsundsechzig Einwohner, nur fünfundneunzig davon waren bis dahin niemals in meiner Behandlung gewesen. In meiner Studie habe ich festgehalten, dass sich bei gleichbleibender Geburten- und Sterberate die Einwohnerzahl binnen zehn Jahren halbiert haben, und das Dorf bis zum Jahr 2070 ausgestorben sein wird. Dies nicht zuletzt wegen der medizinisch und sozial indizierten Infertilität, die sich in unserem Tal ausbreitet. Bis zum dreißigsten Lebensjahr wollen die Frauen - um ihre Selbstverwirklichung in Berufs- und Liebesleben nicht zu gefährden - um keinen Preis schwanger werden; ab fünfunddreißig hingegen wollen sie nichts sehnlicher als das. Die Männer haben einen von Insektiziden und Pestiziden ruinierten Samen, in dem es von pathologischen Formen wimmelt. Die Unfruchtbarkeit wird schön langsam von der Ausnahme zur Regel. Das Dorf imitiert die Stadt. Das Dorf ist krank. Es ist ein reiches Dorf, oja, ein mit modernster Infrastruktur ausgestattetes Weltdorf: ergo ein Dorf der Weltkrankheiten. Das habe ich gesagt in meiner Studie. Ich habe unser Dorf W am See genannt. Es ist ein Dorf meiner Seele. Nur in meinem Gehirn ist das Dorf meiner Seele mit dem Dorf identisch. Aber ich musste - der pathologischen Zustände im Dorf meiner Seele wegen - im Dorf der Wirklichkeit alle Arten von Verfolgung ertragen. Man hat meine Praxis geschlossen und ein Berufsverbot über mich verhängt, mich in die Verbannung und zu Ihnen in Behandlung geschickt. Weil ich krank bin, wie es heißt. Und wenn ich wirklich krank bin, ist das ein Wunder, nach fünfzig Jahren in diesem Dorf?

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