2004-02-04
Eine Tote
Man hatte mich angerufen, kurz nachdem sie gestorben war, mit siebenundachtzig Jahren. In den Wochen davor hatte sie Tag und Nacht geseufzt und gestöhnt, sie hatte nichts mehr gegessen und kaum getrunken, Lippen und Gaumen waren angeschwollen und trocken gewesen. Tag und Nacht hatte man Wache halten müssen in ihrer Nähe, sie war nicht mehr bei sich gewesen.
Ich ging sofort nach dem Telefonat in das Haus, in dem sie gestorben war. Sie lag in ihrer kleinen Kammer, man hatte ihr bereits das Totengewand angezogen. An der Wand hing ein Foto, das sie als junges Mädchen zeigte, in schwarz-weiß, mit schwarzem Passepartout. Das Bild war immer schon an dieser Stelle gehangen Auf dem Foto hielt sie ihr Gesicht auf einen Arm gestützt, ein klares, verträumtes Mädchengesicht, das lange, dunkle Haar zu einem Zopf geflochten, man sah ihre schöne Hand mit den langen, schlanken Fingern, ein Lächeln.
Unter diesem Foto lag sie. Man hatte ihr das Kinn mit einem Kopftuch nach oben gebunden, es war nicht in seiner Haltung geblieben, der Mund war ein wenig nach unten geklappt. Die Augen hatte man ihr geschlossen.
Frieden war um sie. Ihre vollendete Gestalt lag da, der Abdruck ihrer in Körper gegossenen Seele. Als würde sie, ohne es zu wollen, sich unverstellt zeigen. Die Kämpferin, die Ungeduldige, die Leidende, die unaufhörlich Beschäftigte, in Haus und Garten. Was ihr Leben gewesen war, das bekannte und das verborgene, in seiner leiblichen Hülle zusammengefasst.
Es berührte mich, sie so liegen zu sehen. Ich setzte mich auf einen Stuhl am Fußende ihres Bettes, in ihrer Kammer war nur Platz für das Bett, ein Nachtkästchen, einen schmalen Kasten mit ihren Habseligkeiten. Für eine Kommode, auf der ein paar Fotos standen, Blumen aus Kunststoff und jetzt eine brennende Kerze.
Die Hände hatte man ihr gefaltet. Sie war ein schöner Anblick, nichts Schreckliches an ihr, die so gelitten hatte in den vorangegangenen Monaten. Krebs hatte sie von innen her zerfressen. Wie aus Wachs gegossen sah sie aus, ich berührte ihre Hand. Obwohl sie sich nicht bewegte, war für mich alles an ihr Bewegung. In ihren Gesichtszügen war ein Weg zu sehen, ich betrachtete ihn mit Ehrfurcht.
Ein toter Mensch ist wehrlos, dachte ich, zugleich ist er stärker als die Lebenden. Er ist hilflos ausgeliefert in seiner unverstellten Hülle und doch, es kann ihm nichts geschehen, weder Gutes noch Böses. Der Teil, dem Leid zugefügt werden kann, ist nicht mehr anwesend.
In den Zügen der toten Frau lag der Abglanz eines Lächeln, schöner als das des jungen Mädchens auf dem Foto. Als hätte sich ihr im Moment des Sterbens die Spur eines Himmels ins Gesicht gezeichnet.