2011-09-06
9/11
Es war heiß, die Luft flirrte über der Sahel und selbst die Fliegen wagten sich in dieser Hitze nicht mehr an sie heran. Hanazullumi lag im Schatten der Hütte und blickte in den Himmel.
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Weit oben kreisten die Vögel, an deren Namen sie sich auf einmal nicht mehr erinnern konnte. Sie fühlte keinen Hunger mehr und keinen Durst. Es war zu lange her, dass sie etwas gegessen oder getrunken hatte, als dass es ihr noch fehlen konnte. Sie hatte es schlichtweg vergessen. Unter ihren halb geschlossenen Lidern schaute sie in den Himmel und plötzlich sah sie das Gesicht ihres Freundes Aleeke, „dem starken Löwen“. Aleeke sah aber ganz anders aus als sonst. Er war nicht der flotte Quälgeist, der auf seinen Säbelbeinen um sie herumlief und sie neckte. Er lockte sie auch nicht mit Maisfladen, er sah sie nur an. Irgendwie nachdenklich und so weit weg, dass sie ihn gar nicht rufen konnte. Aber sie war ohnehin zu müde zum Spielen. Plötzlich lief Aleeke über den Dorfplatz, aber er sah so komisch aus, ganz weiß und leuchtend. Und er rief sie auch nicht wie sonst. Er lief einfach immer den Blick auf sie gerichtet und plötzlich drehte er sich um und lief geradewegs in den strahlenden Himmel. Bis er einer der Vögel wurde, die majestätisch dort oben kreisten. Hanazullumi, der ihre Eltern diesen schönen Namen gegeben hatten: „die das Böse verhindert“ freute sich, dass ihr Freund so tolle Sachen machen konnte. Sie war sehr stolz auf ihn.
Hana hatte plötzlich Sehnsucht nach ihrer Mutter. Ihr Vater hatte sie schon lange verlassen. Zuerst war er immer dünner geworden und dann war er zu den Geistern gegangen. Sie wollte ihre Mama rufen, aber irgendwie war sie auch dazu zu müde. Da kam einer der Vögel näher und näher, in sanften Kreisen und sie erkannte ihren Vater, der winkte und rief. Aber sie hörte nichts. Ich werde groß werden, Papa und stark. Ich werde viele Kinder bekommen, wie Mama und ich werde dorthin gehen, wo es keinen Hunger gibt und keinen Durst. Wo die Menschen glücklich sind, in hohen Häusern wohnen und in bunten Autos über die Straßen flitzen. Du wirst stolz sein, Papa, wenn du mich siehst, aus deiner Welt. Du und die Geister unserer Ahnen. Und du wirst mich schützen Papa, das weiß ich. Und Mama werde ich versorgen, bis sie ganz alt ist. Und Aleeke heiraten.
Auf einmal war Aleeke wieder bei ihr, nahm sie bei der Hand und sagte nur: komm. Und sie wurde ganz leicht und es wurde immer heller und sie hörte Musik und sie sah ihre Familie tanzen im gleißenden Licht und alle winkten ihr und sahen ganz glücklich aus. Und Hanazullumi tauchte ein in das Licht, an der Hand von Aleeke und konnte auf einmal schlafen. Ganz tief und fest schlafen. Un kein Hunger und keine Krankheit konnten ihr mehr etwas anhaben.
Als die sechsjährige Hanazullumi neben der Hütte ihrer toten Mutter verhungerte und verdurstete, verhungerten zur selben Zeit mit ihr 10 weitere Kinder auf dieser Welt. Und als eine Stunde später, weit weg in einer Stadt, von deren Existenz sie nichts gewusst hatte, auf Geheiß des Multimilliardärs Bin Laden, das erste Flugzeug in das „World Trade Center“ seiner Konkurrenten krachte, waren schon weitere 600. Als das zweite Flugzeug in den zweiten Tower krachte waren es noch einmal 120 mehr. Und als die beiden Türme einstürzten waren es mehr, als bei dem Anschlag ums Leben kamen. Aber über sie berichtete kein Medium der Welt.
Diese Geschichte wurde zum ersten mal 2009 im Augustin veröffentlicht.