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Peter Pirker

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2011-05-19

Das offizielle Österreich und sein Gedenken

Rede am Denkmal der Namen r bei der Gedenkveranstaltung 2011 in Villach, 12. Mai.

.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke dem Verein Erinnern Villach für die Einladung, bei dieser Gedenkveranstaltung sprechen zu können. Das ist für mich eine Ehre, waren mir die Aktivitäten von Hans Haider und seinen Freunden und Freundinnen in vieler Hinsicht Vorbild und Beispiel, insbesondere bei unseren Bemühungen mit dem Kulturverein kuland im Oberen Drautal, die Widerstandskämpfer und Verfolgten des Nationalsozialismus in die Erinnerung zu holen.

Der 8. Mai ist der Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus, der endgültigen Niederlage NS-Deutschlands und seiner Verbündeten und Kollaborateure.

Bekanntlich haben am Sonntag am Wiener Heldenplatz deutschnationale Burschenschaften und Politiker der Freiheitlichen Partei den Tag der Befreiung als das begangen, was es für ihre Vorgänger war und für sie heute offenbar immer noch ist: ein Tag der Niederlage.

Wir wissen, dass der Nationalsozialismus und seine Ideologie nach 1945 in vielerlei Gestalt nachgewirkt haben und nachwirken. Ich stelle eine Frage: Wie kann eine Inszenierung wie jene der deutschnationalen Burschenschafter am Heldenplatz überhaupt möglich sein? Sie ist möglich, weil sie an die Gedenkarchitektur des offiziellen Österreich andocken können.

Denn dort, wo die Deutschnationalen am 8. Mai ihre Feiern im Andenken an die Verteidiger des Dritten Reichs halten, vor der Krypta am Äußeren Burgtor, finden sich am 26. Oktober zehntausende Österreicher und Österreicherinnen ein.

Ich habe mir am 26. Oktober, dem Nationalfeiertag, das Schauspiel angesehen, das staatsoffiziell von der Republik vor und in der Krypta inszeniert wird. In der Krypta wird allen gefallenen und ums Leben gekommenen Soldaten des Ersten Weltkrieges, des Ersten Bundesheeres, der Wehrmacht und des Bundesheeres der Zweiten Republik gleichermaßen gedacht. Im Zentrum liegt vor einem riesigen Christus-Kreuz eine übermenschlich dimensionierte Soldatengestalt, angefertigt in den 1930er Jahren vom Nazi-Bildhauer Wilhelm Frass. Alle österreichischen Gefallenen der deutschen Wehrmacht sind namentlich in handgeschriebenen Gedenkbüchern in Vitrinen aufgelistet, die Seiten werden rituell umgeblättert. Über all dem thront der Schriftzug:

In Erfüllung ihres Auftrages ließen sie ihr Leben.

Auftrag der Wehrmachtssoldaten kurz gefasst: Errichtung eines rassistischen Nazi-Reichs in ganz Europa, Assistenzleistung beim Judenmord. Das steht in der Krypta – wie Sie sich denken können – nirgends geschrieben.

Die Krypta im rechten Flügel des Burgtors am Heldenplatz ist das ideelle Gesamtheldendenkmal Österreichs, der Vernichtungskrieg der Wehrmacht kann hier mitgeehrt werden, wie an den vielen Helden- und Kriegerdenkmälern in ganz Österreich auch. Frappierend ist, dass das Verteidigungsministerium und das österreichische Bundesheer hier den geeigneten Platz dafür sahen, den im Dienst verunglückten oder umgekommenen Soldaten zu gedenken, hier sahen auch das Innenministerium und die österreichische Polizei und Gendarmerie den geeigneten Ort, ein Gedenkbuch für die im Dienst umgekommenen Beamten aufzulegen. Hier werden Staatsrituale bei Besuchen ausländischer Delegationen abgewickelt. Und hier sehen eben auch Neonazis, deutschnationale Burschenschafter und ein freiheitlicher Nationalratspräsident den richtigen Ort, um am 8. Mai die Niederlage NS-Deutschlands zu betrauern. Die typisch österreichische Indifferenz – alle waren gleichermaßen Opfer – arbeitet den Rechtsextremen und Deutschnationalen entgegen.

Sie werden sich fragen: Haben sich die Institutionen der Zweiten Republik denn keinen Ort gegeben, wo der Befreiung und der gefallenen und ermordeten Widerstandskämpfer gedacht wird? Doch es gibt diesen Ort: Es ist der Weiheraum für die Opfer im Kampfe um die Freiheit Österreichs im linken Flügel des Burgtors. Er wurde allerdings erst 1965 eingerichtet und fristet seither im Vergleich zur Krypta ein jämmerliches Schattendasein. Vom Standpunkt einer demokratischen Republik aus wäre der Weiheraum der richtige Ort, wo Institutionen der Zweiten Republik wie das Bundesheer und die Polizei jener Soldaten und Beamten gedenken sollten, die in Ausübung ihres Dienstes auf Basis der demokratischen Verfassung ums Leben gekommen sind. Hier sollte eine Kontinuität gesetzt werden: Zwischen jenen, die gegen den Nationalsozialismus gekämpft haben und jenen, die auf der Basis einer antifaschistischen Verfasssung tätig sind.

Aber die Realität ist eine andere: Am 26. Oktober ist der Raum für Besucher und Besucherinnen nicht einmal zugänglich. Er ist mit einem brusthohen Gitter abgesperrt. Während Tausende Menschen vom Bundesheer in die Krypta geschleust werden, will sich die Republik den Zugang zu den Freiheitskämfpern nicht leisten! Mir wurde dort einmal gesagt, hier gebe es nichts zu sehen. Namen von Freiheitskämpfern und Freiheitskämpferinnen sind im Weiheraum tatsächlich keine zu lesen. Der Raum wirkt insgesamt wie eine verschämte Pflichtübung, jedenfalls nicht wie ein deutliches Statement der Republik Österreich zu jenen Frauen und Männern, die gegen den Nationalsozialismus und das hieß hierzulande: gegen eine Übermacht gekämpft haben. Ein solch klares Zeichen statt kleinlicher Pflichtübungen fordert das Personenkomitee Gerechtigkeit für die Opfer der NS-Militärjustiz: Ein Denkmal für die Deserteure der Wehrmacht am Heldenplatz. Das wäre auch ein Denkmal für die Villacherin Maria Peskoller, die – wie wir heute noch hören werden – Deserteure unterstützt hat, die nicht mehr bereit waren, an Hitlers Vernichtungsfeldzug teilzunehmen und stattdessen begonnen haben, den Nazismus zu bekämpfen. r Maria Peskoller wurde von der NS-Justiz hingerichtet.

Das Denkmal der Namen in Villach ist ein herausragendes Beispiel für das Gegenteil einer jener Pflichtübungen, zu der sich Österreich gelegentlich gezwungen sah, um postnazistische Kontinuitäten zu kaschieren. Das Denkmal der Namen hat mit dem Ausschluss der Widerstandskämpfer und Widerstandskämpferinnen, der Verfolgten und Deportierten, der Ermordeten und Hingerichteten aus dem sozialen und kulturellen Gedächtnis gebrochen. Hier finden Sie beispielsweise die Namen jener Antifaschisten aus Maria Gail, die beim großen Reichskriegsgerichtsprozess in Klagenfurt im Juli 1941 zum Tode verurteilt und dann mit dem Fallbeil ermordet wurden. In Maria Gail haben ehemalige Nationalsozialisten, unter ihnen der ÖVP-Kandidat Karl Fritz, ein für die Verfolgung der Maria Gailer zuständiger SS-Mann, Anfang der 1950er Jahre verhindert, dass ihrer namentlich gedacht wird. Die NS-Gegner wurden von Fritz und dem Ritterkreuzträger der Wehrmacht, dem VdU-Mitbegründer Hans Rohr, noch einmal öffentlich als Verräter der deutschen Volksgemeinschaft gebrandmarkt. Bruchlos propagierten Fritz und Rohr den antislawischen, deutschnationalen Kärnter Heimatkult und jenen Typus heroischer Männlichkeit, der den Kontinent in Schutt und Asche gelegt und wehrlose Zivilisten in Vernichtslager getrieben hat. Der Verein Erinnern hat dieser NS-Kontinuität im Gewande der Heimatliebe 1995 offensiv ein Ende gesetzt.

Wenn wir vor wenigen Tagen im ORF-Radio Andreas Mölzer darüber reden gehört haben, dass sich die Freiheitlichen zur deutschen Volksgemeinschaft bekennen wollen, so bleibt festzuhalten: die deutsche Volksgemeinschaft hat das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts begangen. Sie hat sich realisiert als Verfolgungsgemeinschaft, sie hat sich im Ausscheiden all jener realisiert, die als undeutsch, minderwertig und lebensunwert kategorisiert wurden. Die Nationalsozialisten haben die deutsche Volksgemeinschaft in jeder Stadt, in jedem Dorf versucht mit rücksichtsloser Macht und blanker Gewalt durchzusetzen: für Villach hat der Verein Erinnern diese Praxis und ihr Grauen rekonstruiert. Die Ergebnisse der deutschen Volksgemeinschaft sehen Sie an diesem Denkmal. Es kann gegenüber dieser Idee, die in der Konsequenz und wir müssen bei Ideen und Ideologien immer an die Konsequenzen denken – auch das lehrt das 20. Jahrhundert in vielen Facetten – es kann gegenüber dieser Idee und Vorstellung kein Pardon geben. Es kann, mit dem französischen Philosophen Vladimir Jankélévitch gesprochen, in dieser Hinsicht kein Verzeihen geben; denn es wäre eine schwere Beleidigung gegenüber den Opfern, „ein Mangel an Ernsthaftigkeit und Würde, eine schändliche Frivolität.“

Was bedeutet für mich Erinnern? Ich verstehe Erinnern als kritische Intervention gegen all jene Vorstellungen, die völkische, ethnische und jegliche angebliche „natürliche“ Gemeinschaften und Kollektive zum Zweck der Machtbildung gegen das Individuum, das Subjekt der Aufklärung, durchsetzen wollen. Die Autonomie des Individuums, so angegriffen sie auch sein mag, ist der unhintergehbare, historisch schwer erkämpfte Ort jeder gesellschaftlichen Veränderung nach dem Kollektivitätswahn des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Erlösung im Kollektiv, es gibt nur die Anerkennung des und der Einzelnen, den Streit, die Suche, die freiwillige Assoziation, verschiedene Wege und den Kompromiss.

Der Kompromiss kann politisch notwendig sein, aber er sollte nicht verklärt werden. Erinnern ist kritisches Bewusstsein. Es bedeutet, sich die Unterscheidungs- und Urteilsfähigkeit in der Zeit zu bewahren. Gerade der erzielte Kompromiss zu den zweisprachigen Ortstafeln kann nicht verwischen, welch autoritäre politischen Zustände in Kärnten über Jahrzehnte hinweg von allen maßgeblichen Parteien kultiviert wurden, wie stark die Demokratie ab 1947 korrumpiert wurde. Es ist meines Erachtens daher absurd, etwas als Erfolg zu feiern, was eine Errungenschaft des antinazistischen Kampfes, den Artikel 7, durch die Krücke einer neuen Verfassungsbestimmung biegt. Man mag ihn aus pragmatischen Erwägungen akzeptieren, aber dieser Kompromiss trägt die Insignien korrumpierter Demokratie. Ob bewusst oder nicht: Am deutlichsten hat das jahrzehntelange Nachwirken von Faschismus und Nationalsozialismus in Kärnten der Landeshauptmann kürzlich selbst angesprochen, als er meinte, nun wären die Slowenen in Kärnten gleichberechtigt. Ein härteres Urteil über die Kärntner Nachkriegspolitik und ihre Machthaber – und somit auch über sich selbst und die eigene Partei – kann man eigentlich kaum fällen. Stolz und Triumphalismus sind das letzte, das hier angebracht ist.

Ich beende meine Ansprache mit einem ceterum censeo. Ich bin der Meinung, dass die Kaserne des österreichischen Bundesheeres in Klagenfurt, benannt nach dem Ritterkreuzträger der Wehrmacht, Alois Windisch, umbenannt werden soll. Windisch war ein Kommandeur des Angriffs NS-Deutschlands auf das neutrale Norwegen, er war Kommandeur in der 373. Infanterie-Division, einer der brutalsten Wehrmachtseinheiten im Krieg gegen die Zivilbevölkerung und die Widerstandsbewegung in Jugoslawien. Eine Bundesheerkaserne der demokratischen Republik Österreich sollte Namen von Widerstandskämpfern und Deserteuren der Wehrmacht tragen, nicht aber von Ritterkreuzträgern, die Hitlers Kriegsführung bis zuletzt treu ergeben waren.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

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Walther Schütz, 2011-05-22, Nr. 5114

Lieber Peter, ein genialer Beitrag. Herzlichen Dank für deinen Blick auf die MITTE der Gesellschaft und deren Verlogenheit.

Schwer tue ich mir allerdings mit einem Abschnitt, ich zitiere:

„Ich verstehe Erinnern als kritische Intervention gegen all jene Vorstellungen, die völkische, ethnische und jegliche angebliche „natürliche“ Gemeinschaften und Kollektive zum Zweck der Machtbildung gegen das Individuum, das Subjekt der Aufklärung, durchsetzen wollen. Die Autonomie des Individuums, so angegriffen sie auch sein mag, ist der unhintergehbare, historisch schwer erkämpfte Ort jeder gesellschaftlichen Veränderung nach dem Kollektivitätswahn des 20. Jahrhunderts. Es gibt keine Erlösung im Kollektiv, es gibt nur die Anerkennung des und der Einzelnen, den Streit, die Suche, die freiwillige Assoziation, verschiedene Wege und den Kompromiss.“

Ich tue mir vielleicht deshalb so schwer, weil da die Realitäten in den Gesellschaften, die sich auf die Aufklärung berufen, und die normativen Ansprüche zwei Ebenen bilden, die man auseinanderhalten muss:

EBENE DER REALITÄT

Fakt ist: Menschenrechte sind ein schwacher Versuch, die offenen Formen von Herrschaft zumindest einzuschränken (im Umgang mit Migrant/nnen, mit den Ausgespuckten aus den Erwerbsarbeitsmarkt, mit politisch Missliebigen, siehe Tierschützer/innenprozess haben sie ohnehin nur eingeschränkteste Geltung) und so auf der politischen Ebene einen gewissen Freiraum zu ermöglichen

Fakt ist aber auch, dass selbst unter optimalen bürgerlich-politischen Freiheitsbedingungen niemand von uns im Kapitalismus ein freies Individuum ist. Hinter dem Rücken der Beteiligten setzen sich die Zwänge des Systems durch, der / die Einzelne ist Teil einer Kapitalverwertungsmaschinerie. Insofern ist es eine Illusion, dass wir kein „Kollektiv“ bilden. Wir sind ein grausiges, und das im Weltmaßstab. Selbstverständlich sind diese Weltgesellschaft und ihre regionalen Verdichtungen hin zu Staaten und Nationen KEINE „natürlichen“ Kollektive, sondern aus der kapitalistischen Entwicklung entstandene und diese wiederum vorantreibende, sich ständig verändernde Zwangsgemeinschaften (denen wir uns aber in der Regel freiwillig unterwerfen!). Die chinesische Wanderarbeiterin ist Teil des selben Kollektivs – einer ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit – wie der Filialleiter einer Versicherung mit seinem SUV und dessen bosnischer Putzfrau: Aneinandergekettet über eine geldvermittelte Arbeitsteilung, einander ausbeutend und im permamenten Wirtschaftskrieg aufeinander einschlagend.

In dieser Situation halluziniert nun die bürgerliche Gesellschaft das Bild des Individuums, des Subjekts der Aufklärung. 7 Milliarden Subjekte, also Einheiten, die sich selbst bestimmen? Das ist pure und keinesfalls harmlose Ideologie für Menschen, die sich - wohl zum größten Teil freiwillig - einer Herrschaft unterwerfen.

Nun, wer ist dann das Subjekt, das Bestimmende? Wenn nicht der / die Einzelne, dann vielleicht die Regierenden? Selbst wenn wir noch so demokratisch wählen: In DIESEM gesellschaftlichen Zusammenhang kann keine Regierung der Welt gegen Wirtschaftswachstum sein, gegen die Verwertung IHRES Menschenmaterials. Da ist nicht einmal eine Regierung „Subjekt“, vielmehr wirkt im Hintergrund ein Automatismus, der festlegt: Aus Wert muss mehr Wert werden. Marx hat dieses richtigerweise als AUTOMATISCHES Subjekt bezeichnet.

Die bürgerliche Ideologie (hier im Sinne von „falsches Bewusstsein“), dass der / die Einzelne das Subjekt sei, ist nun keineswegs eine sympathische Illusion, sondern geradezu der Motor von Antisemitismus: Denn wenn wir eh so frei sind und wir alle uns so selbstverantwortet einbringen und dabei dennoch alles in die Hose geht, dann können da ja nur böse Strippenzieher/innen im Hintergrund sein - die Ostküste, eh schon wissen ...

EBENE DES NORMATIVEN: Wie könnte / wie sollte es sein?

Da ist halt die Frage, was man genau unter Kollektiv und Subjekt versteht. Leicht wird man sich aus einer emanzipatorischen Perspektive darauf einigen können, dass „es ... nur die Anerkennung des und der Einzelnen [gibt], den Streit, die Suche, die freiwillige Assoziation, verschiedene Wege und den Kompromiss", dass also die marx'sche Forderung gilt: Jede/r nach seiner / ihren Fähigkeiten, jede/r nach seinen / ihren Bedürfnissen. Da gibt es sicher innerhalb der Linken eine unheilvolle Tradition, die Rechte des / der Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft zu gering zu schätzen. Aber was heißt das genau?

Und: Kann es 7 Milliarden Subjekte im Sinne von „unabhängig Selbstbestimmenden“ geben? Ist in einem sozialen Kontext der Begriff des „unabhängig Selbstbestimmenden“ überhaupt sinnvoll? Kann es das überhaupt geben, wo Menschen zusammenleben (und eine andere Existenzform a la Robinson Crusoe ist eine Fiktion) und permanent Vereinbarungen und Kompromisse eingehen?

Aber ist meine Übersetzung des Subjektbegriffes „unabhängig Selbstbestimmenden“ überhaupt richtig? Aber was ist es sonst, das Subjekt?

mimenda, 2011-05-25, Nr. 5116

"Volksgemeinschaft", das ist doch ein aufgeblasenes Wort. Volk (slawisch "pulk" und lateinisch "vulgus" sollen hier laut Wiki Pate stehen) war wohl dem Ursprung nach die Kriegsschar, also letztlich ein noch überschaubarer Haufe. Und wenn ich heute "Volk" denke, ohne den Staat dabei mitzudenken, habe ich eine unbestimmte Menge von Menschen vor Augen, die nicht gleich sein müssen, sondern nur durch irgendetwas lose aufeinander hingeordnet sind.

Das deutsche Volk zerfällt damit für mich in ein Sammelsurium von Deutsch sprechenden regionalen Gruppen (oder recht überschaubaren deutschen Völkern), die in irgendeiner Weise aus einem kulturellen Fundus schöpfen oder sich zumindest auf diesen berufen.

Mit diesen deutschen Völkern kann ich was anfangen, ihre Eigenheiten lieben oder mich von ihnen inspirieren lassen. Wenn aber die Klammer dazukommt - sei es eine von oben oder eine ideologisch verordnete - dann wird es mir mulmig um's Gemüt. Das hat nun in meinem Falle weniger mit der Nazi-Zeit zu tun, als vielmehr damlt, dass mir gezwungene Gemeinschaft ein Graus ist, weil ihr keine natürliche Realität zukommt, weil sie - da nicht mehr überschaubar - ein bloßes ideologisches Konstrukt ist, das man als Mitglied dieser Gemeinschaft anzunehmen hat wie ein Dogma. Und, um im Vergleich zu bleiben: sie ist kein erhebendes Dogma wie das dialektische Dogma der Dreifaltigkeit, sondern ein schmierig-triefendes wie das der Unfehlbarkeit des Papstes.

Das Individuelle, das natürlich (noch) ebenso ideologisch ist wie das Gemeinschaftliche, weil es ebensowenig real ist und genauso zwanghafte Züge trägt, scheint mir jedoch zumindest in der Utopie eines selbstbestimmten Lebens, das sich als solches schon aus utilitaristischen Gründen mit anderen Selbstbestimmten ins Einvernehmen setzen müsste, doch als die eine wesentliche Bedingung der Möglichkeit von Mündigkeit und damit Freiheit.

Das Individuum kann aber nach meinem Dafürhalten auch nur entstehen, wenn es sich in eine natürliche Gemeinschaft (die mit bombastischen Konstrukten von Volksgemeinschaften nichts gemein hat) durch Rücksicht, Vorsicht, Nachsicht, Weitsicht mit seiner individuellen Absicht einfügt. Freiheit wäre dann die Einsicht in die Notwendigkeit und das Handeln danach gemäß den individuellen Fähigkeiten.

jerseyno1, 2011-05-30, Nr. 5120

großartiger text, dankeschön!

dazu vielleicht passend:
zum erinnern: es wäre schön gewesen, wenn die sehr gute initiative / installation 'Allee der Gerechten' am wiener ring ihr offizielles ende nicht vor dem 8. mai gefunden hätte. gerade auch am und über den 8. mai hinaus wäre diese strasse der erinnerung schön und wichtig.

und: ich bin in klagenfurt-wölfnitz aufgewachsen und zur schule gegangen - ich finde es beschämend, dass ich erst 20 jahre später von der geschichte der lendorf-kaserne lesen musste. und auch heute noch spielt im unterricht in der lokalen schule diese geschichte keinerlei rolle.

die ergebnisse der initiative von peter gstettner sollte einzug in den lokalen geschichtsunterricht finden!

Peter Pirker, 2011-06-05, Nr. 5121

Lieber Walter, danke für deine Anmerkungen. Ich verstehe die Menschenrechte historisch als Teil der politischen Form des Kapitalismus, an seiner bürgerlichen Fassung gebildet sowie in ihrer universellen Proklamation 1947 als politische Reaktion auf deren negative Aufhebung durch Faschismus und Nationalsozialismus. Aus dem ersten ergibt sich, dass ein absolut freies Individuum selbstverständlich nicht existiert, sondern Freiheit und Gleichheit von der Vergesellschaftungsweise formbestimmt sind (bürgerliches Subjekt). Auf dieser Ebene sind die Menschenrechte und ihre Beschränktheiten ideologiekritisch zu entschlüsseln. Das ist das eine. Das andere sind die historischen Erfahrungen von Vertreibung, Repression und Vernichtung. Aus den Erfahrungen und Reflexionen von Exilanten in Großbritannien und den USA während der Herrschaft des NS in Europa lässt sich eindrücklich lernen, wie sich die Wertschätzung für bürgerliche Prinzipien einstellt, auch wenn man sie weiter kritisieren kann. Für mich ist das kein Widerspruch, sondern das Anerkennen erreichter Standards notwendige Voraussetzung für Weiterdenken und Weiterhandeln, womit hier nicht eine bloße lineare Ausdehung gemäß der Vorstellung einer einmal erreichbaren „idealen“ bürgerlich-liberalen Gesellschaft gemeint ist. Zugleich ist für mich aber selbstverständlich das Durchsetzen der bürgerlich-liberalen Standards unbedingt wünschbar, wo Leute weitgehend unwidersprochen von Volksgemeinschaft, Volksempfinden und der „Bürde des Staatsvertrags“ reden (also beispielsweise in Kärnten).

Gerade was den Umgang mit Flüchtlingen betrifft war der völlig unzureichende Schutz durch die westlichen Demokratien ausschlaggebend für die Schaffung der Genfer Flüchtlingskonvention (die auf den Menschenrechten basiert), die vor dem Hintergrund der Erfahrungen von Flüchtlingen zwischen 1938 und 1945 ein Fortschritt war, den man gar nicht hoch genug einschätzen kann und der progressiv zu verteidigen ist – gerade gegen die Schützer nationaler Kollektive.

Ein begrifflicher Einwand: Das Kapital würde ich nicht als Kollektiv bezeichnen, vielmehr – wie du selbst schreibst - als eine ungesellschaftliche Vergesellschaftung. Zu einem Kollektiv gehört doch die bewusste und gewollte Unter- oder Einordnung. Beides ist keine Voraussetzung der kapitalistischen Vergesellschaftung, hier geschieht das im Grunde automatisch über das Geld als "Lebensmittel". Das Individuum als Subjekt der Aufklärung kann auf diese automatische Vergesellschaftung reflektieren, in dieser Hinsicht kann es sich auch Autonomie bewahren, Mündigkeit entwickeln; es ist nicht notwendigerweise auf pathische Projektion (und damit den Antisemitismus) konditioniert, wie du nahelegst.

Zum normativen: Ich habe nicht von „unabhängig Selbstbestimmenden“ gesprochen, was ja naiv wäre, sondern bestimmte Formen der Kommunikation benannt. Auch das Recht ist eine bürgerliche Form, die als Vermittlung einen Standard gesetzt hat, der zwar wiederum als formbestimmt zu entziffern und zu kritisieren wäre, aber von dem ich unbedingt ausgehen möchte. Gerade in der Vermitteltheit von Herrschaft ist bürgerliche Herrschaft gegenüber direkter Herrschaft jener Fortschritt, der das Individuum überhaupt erst ermöglicht und - begrifflich, aber auch real - in Geltung setzt. Das ist gerade dann zu bedenken, wenn hierzulande von deutscher Volksgemeinschaft, gesundem Volksempfinden und ähnlichem Horror gesprochen wird. Darauf war dieser Absatz bezogen und darauf wollte ich hinweisen.

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