2005-06-29
Lange nichts von Paulchen gehört, oder Chancen der Globalisierung
Prolog
Er ist wieder aufgetaucht, Paulchen. Ich habe ihn höchstpersönlich getroffen. Viele Jahre, was sage ich, Jahrzehnte hatte man nichts mehr von ihm gehört oder gesehen. Paulchen, der einen nicht geringen Teil seines Daseins als Comicfigur gefristet hatte, war irgendwann verschwunden. Nicht allein die Stadt, auch seine Identität hatte er gewechselt und firmiert seitdem unter dem Namen Charles Latan.
Ansonsten hat sich sein Verhalten kaum geändert. In seiner Stammkneipe am Tresen sitzend wird er gewöhnlich nach drei Bieren munter, nach fünfen gesprächig, nach sieben genialisch, nach zehnen schließlich unerträglich. Als eloquenter Schwadroneur erster Güte vermag er sein delogiertes Publikum, das in Ermangelung eigener Wohnstatt ihm nicht entrinnen kann, für einige Momente in die Höhen geistigen Tiefsinns zu entführen.
Nicht umsonst hatte man ihn früher einmal „Paulchen der kleine Philosoph“ geheißen; und auch gemalt.
Die Lokalität, in der er Hof zu halten pflegt, gleicht einer Lagerhalle für ausrangierte Menschen, die sich mühen, auf unbequemen Sesseln das Gleichgewicht zu halten. Das Etablissement atmet asthmatisch den Charme eines Bahnhofswartesaals, wohin man die Gleise zu verlegen vergessen hat. Allein dieser Satz erfüllte Charles mit Stolz.
Kurzum, das Lokal ist ein unpopulärer und daher beliebter Geheimtipp für diejenigen, die sonst den Kontakt zu anderen Menschen eher fliehen. Trotz dieser Umstände erwuchs hier der Geisteswissenschaft eine Alma mater et pater et spiritus sancti, die den Vergleich mit der Stoa oder Akademie in Athen nicht zu scheuen braucht.
Dort wird der Begriff Symposion gelebt. Charles übt dabei die Funktion eines Animateurs aus, unbezahlt und -rufen, versteht sich. Als ich ihn traf, etwa gegen sechs Bier und drei Obstler abends hub er, durch fast undurchdringlichen Zigarettenqualm nur noch schemenhaft wahrnehmbar, für den anderen Nebel war die Joint-Venture-Fraktion verantwortlich, zu einem wirtschafswissenschaftlichen Diskurs (=Monolog) an.
Sein Thema: Die Globalisierung, Chance oder Bedrohung? Liegt die Bedrohung in der Chance, oder umgekehrt?
Mit dieser Fragestellung eröffnete er konzentriert stieren Blickes in Richtung der wohl gerade untergehenden Sonne (Westen) seine Ausführungen:
Das Hauptproblem bildet der Osten; genauer gesagt, die Billiglohnländer. Alles was bei uns erzeugt werden kann, kann im Osten preisgünstiger erzeugt werden. Ungarn ist billiger, Bulgarien, Ukraine und China sind noch günstiger als wir. Wir hier im Westen zahlen viel zu hohe Löhne, wir können mit dem Lohnniveau im Osten nicht konkurrieren. Daher, drastisch runter mit den Lohnkosten.
Denn, da der Lohn in Richtung Osten immer weiter sinkt und die Erde rund ist, wird aufgrund der Globalisierung der Niedriglohn logischerweise bei uns ankommen und wir müssen dann billiger sein als das dann, global gesehen, von uns westlich liegende China, um wirtschaftlich bestehen zu können. Außerdem reicht es nicht, alleine global zu denken.
Universales, galaktisches Denken ist angesagt. Wer weiß, vielleicht ist unser Globus inzwischen von irgendwelchen Außerirdischen als Hedge-Fond aufgekauft worden und wird ohne Sozialplan abgewickelt. Für diese Galactic-Players heißt Konkurrenz, andere aus der Plantetenbahn zu werfen. ESA wie auch NASA haben handfeste Indizien dafür, dass im Sternzeichen Cygni F58 Billigraumfahrzeuge produziert werden und das ohne Lohnausgleich. Wir können uns weder unser Sozial- noch Sonnensystem leisten, solange wir auf Kernkraft verzichten. Allein die Privatisierung der Sonne könnte uns Lichtjahre voranbringen und die Rente unserer Urgroßeltern sichern.
Ihm wurde schwindlig, mit dem Satz E=mc² (= ich brauche noch ein Bier) ließ er entkräftet seinen Kopf auf den Tresen sinken.
In memoriam Pjotr
(von Lobo, nach Diktat in Hafturlaub)